Es gab einmal eine frisch verheiratete Frau, die für ihren Mann einen speziellen Braten zubereiten wollte. Bevor sie den Braten in den Ofen schob, schnitt sie an jeder Seite ungefähr einen Zentimeter von dem Fleischstück ab, so wie sie es immer bei ihrer Mutter gesehen hatte. Als ihr Mann sie fragte, warum um Himmels willen sie denn den besten Teil des Bratens abschnitt, wusste sie darauf keine bessere Antwort als „Weil meine Mutter es auch immer so macht“. Am nächsten Tag ging die junge Frau deshalb zu ihrer Mutter und fragte sie, wieso sie eigentlich immer die Enden des Bratens abschnitt. Doch genau wie ihre Tochter wusste auch die Mutter darauf keine Antwort. Sie zuckte mit den Schultern und sagte: „Weil meine Mutter es auch immer so macht.“ Jetzt waren die beiden Frauen neugierig geworden und gingen deshalb zur Großmutter der jungen Frau und fragten: „Warum schneiden wir eigentlich immer die Enden des Bratens ab?“ Völlig schockiert rief die Großmutter: „Ihr macht das schon all die Jahre? Ich habe die Enden vom Braten nur deshalb immer abgeschnitten, weil er sonst nicht in meinen kleinen Topf passte!“
Diese Anekdote stammt aus dem Buch „Mein Jahr als biblische Frau“ von Rachel Held Evans, erschienen bei Gerth Medien, ISBN 978-3-86591-753-9
Ganz davon abgesehen, dass das gesamte Buch sehr lesenswert ist, verdeutlicht die Geschichte, wie sich manchmal „Traditionen“ bilden können, ohne zu reflektieren, warum ein bestimmtes Handeln zu bestimmten Zeiten erfolgte. Ohne Reflektion wird aus Tradition aber nur zu schnell Traditionalismus.
Gegenspieler der Tradition ist der Zeitgeist. Laut Duden ganz neutral definiert als „für eine bestimmte geschichtliche Zeit charakteristische allgemeine Gesinnung, geistige Haltung“. Aber gern angesehen als die Kraft, die alles Überkommene und Erprobte kaputtzumachen droht, wenn man sie nur lässt.
Ist es denn schon der Untergang des Abendlandes, wenn man hier und da die Zeit, die Form oder einzelne Elemente ändert, beispielsweise im Gottesdienst, um es jungen und älteren Menschen leichter zu machen, neu zur Gemeinde zu kommen?
Es ist jetzt 12 Jahre her, dass wir als Familie uns wieder neu auf das „Abenteuer Kirche“ eingelassen haben. Wir sind in den ganz normalen (9:30 Uhr-) Sonntagsgottesdienst gegangen, haben uns zum Kirchenkaffee einladen lassen, sind ins Gespräch gekommen.
Aber ganz ehrlich, wenn ich nicht so neugierig gewesen wäre, was hinter dem „Kirchensprech“ eigentlich steckt (Danke, Tante Google), dann wären wir auch vermutlich irgendwann wieder weggeblieben. Schon die Texte und Melodien der Lieder, die so gar nicht in unserem Alltag vorkamen. Und dann die altertümliche Sprache in den Psalmen und Bibeltexten… Die ganz sicher wohlgemeinten Fragen, wann wir denn unsere „Stille Zeit“ hielten. Bitte? Stille Zeit? Mit Baby?
Und erst die Uhrzeit!!! Wenn der Sonntagmorgen als Familienzeit so kostbar ist, denn es ist der einzige Tag in der Woche, wo man als mehr oder weniger junge Familie wirklich mal in Ruhe gemeinsam frühstücken kann, ohne dass irgendwer sich hektisch für den Tag fertigmachen muss, dann ist schnell die Überlegung da, was denn nun wichtiger ist.
Irgendwann habe ich begriffen, dass es andere Leute gibt, denen es genauso wichtig ist, dass Sonntag am Mittag pünktlich der Braten (ob abgeschnitten oder nicht…) auf dem Tisch steht, da ist es dann gut, wenn man zeitig vom Gottesdienst zurück ist. Ist das eine Modell besser als das andere? Sollte es nicht eher so sein, dass wir uns in der Gemeinde gegenseitig mit unseren Vorlieben, unseren Zeitplänen, unserem Status Quo auf dem persönlichen Glaubensweg gegenseitig wertschätzen und respektieren? Sollte es nicht so sein, dass jeder sein Plätzchen findet, dass in einer Gemeinde mit mehreren Predigtstätten diese sowohl mit gemeinschaftlichen als auch mit Zielgruppengottesdiensten gefüllt werden? Dass in Gemeinden, wo das nicht möglich ist, auch mal gesagt wird: „50 Jahre lang hatten wir jetzt den Gottesdienst um 9:30 Uhr, jetzt tauschen wir mal und ich passe mich denen an, die bisher deswegen Probleme hatten?“ Oder halten wir lieber daran fest, zu sagen: „Das war schon immer so, und so machen wir das auch zukünftig.“ Das ist dann Traditionalismus!
Genauso, wie es die negative Auswirkung des Zeitgeistes ist, wenn ohne Reflektion alles über den Haufen geworfen wird. Der beste Weg liegt wie immer: mehr oder weniger in der Mitte.
„Tradition ist eine Laterne, der Dumme hält sich an ihr fest, dem Klugen leuchtet sie den Weg.“ (George Bernard Shaw)
PS: In den 12 Jahren hat sich schon einiges geändert. Mehr neue Lieder, Basis-Bibel für Lesungen und auch einiges andere. Habt einfach Mut und lasst euch ein. Und seid neugierig!
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