Gedanken beim Bahnfahren – ein Reisebericht

Irgendwie ist es immer wieder etwas Besonderes für mich, wenn ich an einem Bahnhof stehe und mich freue, gleich in einen Zug einzusteigen. Ich fahre gern mit der Bahn.          Zu Beginn schaue ich aus dem Fenster und sehe meine bekannte Umgebung: Die Straßen, die ich sonst mit Auto oder Fahrrad befahre, Rückseiten der Gewerbegebiete, Landschaft, die mein Zuhause ist. Aber aus einer anderen Perspektive.

So ein Perspektivwechsel tut gut. Ich entdecke Details, die ich sonst nicht bemerkt hätte. Da der Bahndamm meist etwas erhöht ist, hat man gewissermaßen den „Überblick“. Trotzdem fliegt die Landschaft an einem nur so vorbei, Sinnbild für die Zeit. Keinen einzigen Augenblick kann ich anhalten und sagen: He, Moment, diese Szene möchte ich noch einmal erleben, wie die Katze sich da im Feld anschleicht…!

Perspektivwechsel, nicht nur beim Bahnfahren, sollten wir uns öfter mal gönnen. Es weitet den Blick. (Als ich diese Zeilen in meine Kladde schrieb, wusste ich noch nicht, dass diese Überlegung sehr gut zu der Podiumsveranstaltung passen würde, die ich später besuche. Doch davon in einem neuen Beitrag.)

Es ist auch nicht jeder Bahnhof gleich (schön). Soeben halten wir in Löhne, und obwohl der Bahnhof um einiges größer ist als der in Porta (der ja nur ein „Haltepunkt“ ist, siehe Foto oben), kommt er mir (noch) viel trostloser vor. Wäre ich jetzt allerdings statt auf der Durchreise auf einer Fotosafari, sähe meine Wahrnehmung mit Sicherheit wieder ganz anders aus. Mit dem Sucher vor dem Auge halte ich sogar manchmal ganz bewusst Ausschau nach solchen Motiven. Es gibt eben nicht nur schönes (zum Fotografieren ebenso wie im Leben). Auch das Melancholische, das Heruntergekommene, das Trostlose gehört dazu.

Eben kommt mir ein ganz verwegener Gedanke: Ob es die sogenannten „Netzkarten“ wohl noch gibt? Die für das gesamte Bahnnetz in Deutschland gelten? (Gibt es, weiß ich inzwischen, heißt „Bahncard 100“ und kostet für die 2. Klasse im Monatsabo fast soviel wie eine Monatsmiete…) Vor vielen Jahren hat Sten Nadolny einen Roman mit dem Titel „Netzkarte“ geschrieben über seine Erlebnisse beim Bahnfahren. Das kann ich gut nachvollziehen, auch bei mir regt jede Bahnreise unweigerlich den Gedankenfluss an. Mein Hirn fängt regelrecht an, Gedanken zu sabbern, so wie Kalle sabbert, wenn ich ihm ein besonders schönes Leckerchen hinhalte.

Heute (also gestern) ist der Regionalexpress spätestens ab Bielefeld fest in der Hand der Kirchentagsbesucher. Bei jüngeren und älteren Fahrgästen ist so ein bienenstockartiges „Grundsummen“, eine gespannte und freudige Erwartung dessen, was auf sie zukommt. Typisch evangelische Stichwörter sind von überall her zu hören: „Posaunenchor“, „Ehrenamtliche“, „Käßmann“, ergänzt durch „Westfalenhalle“, „Podium“, „Markt der Möglichkeiten“…

Wusch, nächster Gedanke: Schrebergärten liegen oft an Bahnlinien. In den letzten Jahren ist mir eines oft aufgefallen: die Rückseiten der Lauben (die für Bahnreisende dann aber logischerweise frontal zu sehen sind), sind häufig viel ungepflegter als die Seiten oder Fronten sowie die dazugehörigen Gartenstücke. Was vermutlich auch daran liegt, dass von den Gleisen und den Zügen (Bremsstaub…) viel Dreck kommt. Und für die Pächter lohnt es sich nicht, hier genauso sauber zu halten wie vorn. Irgendwie ist das doch auch ein Bild für etwas, was wir Menschen ganz oft tun. Wir pflegen unsere „Vorderseiten“, das, wovon wir ausgehen, dass es unsere Mitmenschen zu sehen bekommen. Unsere „Rückseiten“ dagegen, die uns nicht so offensichtlich erscheinen, vernachlässigen wir gern. Und denken selten daran, dass es Leute geben könnte, die genau diese ungepflegte und unfreundliche Seite frontal zu sehen bekommen. Das gilt nicht nur für äußerliches, sondern vielmehr auch für innere Werte.

Ich tauche aus diesem Gedankengang wieder auf und mir fällt auf: Im Zug herrscht immer noch ein angenehmes Geschnatter. Überall unterhalten sich Leute angeregt.

Wenn ich mit dem ICE von Hannover nach Würzburg fahre, höre ich bestenfalls jemanden telefonieren, je nach Temperament ganz leise und verschämt oder lautstark von der eigenen Wichtigkeit überzeugt. Und ansonsten ist nur das Klackern von Notebook-Tastaturen zu hören bei Geschäftsleuten und Studenten. Mir gefällt die heutige Variante besser!

Auf dem Rückweg abends, angenehm müde und noch ganz erfüllt von einem inspirierenden Lobpreis-Konzert in einer Baptistenkirche, die ich sehr schön und einladend empfand, hoffe ich, dass sich ebenfalls ein Kirchentagsbesucher neben mich setzt. Ich hatte einige gute Gespräche am Tag, meistens unterwegs von einem Ort zum Anderen.

By the way, der Hauptbahnhof in Dortmund war morgens so überfüllt…

Erinnerte mich an die Szene im Film „Crocodile Dundee“ in der Central Station in New York mit all den Menschenmassen. Allerdings wäre die Central Station ziemlich blass geworden, wenn sie den Auflauf vor der Rolltreppe zur U45 Richtung Westfalenhalle gesehen hätte…

Dort traf ich Kerstin aus Verl, die auch keine Lust hatte, in dieser Masse zerquetscht zu werden. Nachdem sie sich versichert hatte, dass ich eine Portion Orientierungssinn besitze (und wo der nicht ausreicht, hilft Google Maps), beschlossen wir, zu Fuß zu gehen und hatten eine nette halbe Stunde zusammen. Die morgendliche Bibelarbeit konnten wir dadurch zwar nicht mehr wahrnehmen, aber auch mit der Ubahn wären wir nicht rechtzeitig angekommen. Dafür war ich nun aber rechtzeitig da, mir im Zelt einen Platz für die Podiumsveranstaltung zu sichern, die ich besuchen wollte. Mittags schlenderte ich durch die Hallen, pickte mir beim ERF viele schöne Postkarten zusammen und einen knallroten Stoffbeutel mit einem Werbeslogan des Senders. Irgendwo gewann ich eine Thermosflasche. Und dann suchte ich den Malche-Stand. Doch bevor ich dort ankam, stutzte ich, denn da war ASTRID in Aktion am Stand des Johanneums! Das war eine Wiedersehensfreude! Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, umso schöner war das. Dafür hatte sich der Trip nach Dortmund schon gelohnt!

Später beim Weg durch die Innenstadt wurde mir beim Anstehen vor der Eisdiele doch glatt mein Stoffbeutel mit den Werbemitteln geklaut. Ich hatte den mit einem Seglerknoten an meinen Rucksack gebunden, der muss abgeschnitten worden sein, ohne dass ich es mitbekam 😦  Kein Drama, aber ich hatte die Kartenmotive und Sprüche eigentlich sehr individuell ausgesucht und oft schon bestimmte Leute im Hinterkopf, denen ich sie schenken wollte.

Was ich ehrlich gesagt sehr unangenehm fand, waren vereinzelt Bettler, die nach meinem Empfinden ziemlich aggressiv agiert haben. Da war dann auch eine sehr starke Abwehrhaltung meinerseits die Folge. Ich habe kein Problem damit, jemandem etwas zu geben, aber es sträubt sich in mir, wenn mich jemand 100 Meter verfolgt und beschimpft. Erstens ist längst nicht jeder Kirchentagsbesucher ein Krösus, zweitens hatte ich nur ein kleines Budget mitgenommen und drittens, ja, muss ich mich auch fragen, ob ich mich eventuell auch einfach in meiner Komfortzone gestört fühlte. So als Landei, die das denn doch in der Form nicht kennt.

Erkenntnis des Tages: Wo viel Licht ist, gibt es auch Schattenecken. Jedenfalls, meine Hoffnung für die Heimfahrt erfüllte sich nicht, es ließ sich einfach jemand neben mich plumpsen und seinen Rucksack auf meinen Fuß fallen, ohne sich zu entschuldigen und ohne auch nur zu fragen, ob der Sitz neben mir frei wäre. Geschweige denn, einen guten Abend zu wünschen. Willkommen im Leben. Es ist halt nicht alles Kirchentag 😉

Autor: Annuschka

Ostwestfälisch beharrlich, meistens gut gelaunt, Buchhändlerin, Ehefrau, Mutter von drei tollen Töchtern, Hundemama, Jugendarbeiterin (in zeitlicher Reihenfolge des Auftretens). Mit vielen Interessen gesegnet oder geschlagen, je nach Sichtweise ;-)

2 Kommentare zu „Gedanken beim Bahnfahren – ein Reisebericht“

  1. JA!!
    Das war wirklich schön, dass du plötzlich vor mir standest. 🙂 Ich fand auch, dafür hat sich der Kirchentagsbesuch schon gelohnt!
    Nach meiner Schicht dachte ich, wir hätten uns noch zum Essen/Kaffee/Wasauchimmer verabreden sollen. Andererseits: nach dreieinhalb Stunden voll mit intensiven Standgesprächen war ich eh nicht mehr zu so richtig viel in der Lage.
    Also dann doch irgendwann mal in Wuppertal. Oder Lerbeck. Oder werweißwo sich plötzlich wieder die Gelegenheit ergibt …
    Ganz liebe Grüße! Es ist schön, dass es dich gibt.

    Gefällt 1 Person

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