Auf meinem SUB lag das Buch schon irgendwann im Advent. Allerdings gab es so viel unterschiedliche Dinge zu lesen, dass es in der Warteschleife gefangen war.
Anfang Februar, drei Tage vor der denkwürdigen Thüringer MP-Wahl-Posse, beschloss ich das zu ändern. Und wie wir es gern machen, begann ich, jeden Morgen nach dem Frühstück und manchmal auch mittags nach dem Essen, meinem Mann daraus vorzulesen. Anschließend gab es ein kleines Gespräch über den Abschnitt.
An dem besagten Wahltag dachte ich mir, es habe doch wohl einen besonderen Grund, weshalb ich das Buch ausgerechnet jetzt zur Hand genommen habe. Als am vergangenen Wochenende die rechtsextreme Terrorzelle aufflog, dabei auch drei Männer aus meiner und der Nachbarstadt verhaftet wurden, dachte ich das immer noch. Als ich gestern früh um 5:30 Uhr mit den Nachrichten geweckt wurde, den Nachrichten vom Anschlag in Hanau, da hatten wir es einen Tag vorher durchgelesen. Und ich fühlte neben dumpfer Trauer eine Erleichterung, da ich wusste, dass dieses Buch viele Menschen begeistert hat, vor allem auch bei den Lesungen. Ich wusste, da draußen gibt es nicht nur Hass und Gewalt, sondern auch viele, die das nicht wollen. Es gibt Menschen, die differenzieren können. Und die sich jetzt gerade vielleicht ebenso wie ich bewegten zwischen einer ohnmächtigen Sprachlosigkeit und dem Aufbegehren, so nicht bleiben zu wollen.
Aber der Reihe nach:
Zu Beginn des Buches stellt Frau Hayali sich vor, familiärer Hintergrund, wo sie aufgewachsen ist und so. Sie ist ein paar Jahre jünger als ich, aber ich war überrascht, dass es in ihrer und meiner Kindheit einige Parallelen gibt, unter anderem war sie wie ich auch ein spätes Kind schon etwas erfahrenerer Eltern. Verbunden ist das mit vielleicht ganz typischen Erziehungsgrundsätzen in den 70er Jahren, wer weiß?
Bei mir waren das die Merksätze meines Vaters, der mir beibrachte „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz“ oder „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg auch keinem anderen zu“. So etwas prägt. Immer mal wieder ein Perspektivwechsel. Auch wenn mir das damals natürlich überhaupt noch nicht bewusst war.
Zurück zum Buch. Ich empfinde es als wohltuend unaufgeregt, aber sehr bestimmt in Stil und Aussage. Keine Herumeierei wie oft bei Politikern, an einigen Stellen auch selbstkritisch, die Verantwortung der Medien betreffend. Kein pauschales Bashing irgendwelcher Gruppierungen, aber die klare Forderung nach Respekt – zunächst einmal für alle, ob im analogen oder im digitalen Raum, ob Normalo, Linker oder Pegidabesucher. Denn auch das stellt sie klar: Respekt ist erstens keine Einbahnstraße, und zweitens ist es legitim, bestimmten Menschen den Respekt zu verweigern, wenn sie sich dessen unwürdig erweisen. (Das ist jetzt meine Formulierung)
Großen Respekt habe ich vor der Leistung, sich ständig wieder in den sozialen Medien durch den großen Wust an Kommentaren zu ackern, sich dabei mit sehr viel geistiger Gülle auseinanderzusetzen und immer wieder neu zu überlegen, wie damit umgegangen werden muss. Wann ist etwas nur Blödsinn, wann werden Grenzen zur Strafbarkeit überschritten, wann dient eine Reaktion dazu, etwas zu gewichten, das der Gewichtung nicht wert ist.
Eigentlich würde ich das Buch gern direkt noch einmal lesen, da ich jetzt weiß, wie es endet (keine Bange, das verrate ich nicht, ich möchte ja erreichen, dass DU das Buch auch noch liest 😉 ) und es von daher noch anders aufmerksam aufrollen. Allerdings liegen schon die nächsten Bücher vor meiner Nase…
Nur so viel: am Ende stellt Frau Hayali vier Szenarien der zukünftigen Entwicklung auf. Ich wünsche mir ganz unbedingt die vierte. Alles andere wäre nicht wünschenswert für meine Heimat. Davor gruselt mir.
Das Buch kann ich nur empfehlen, vor allem, weil es differenziert. Weil es so geschrieben ist, wie ich mir unsere Gesellschaft wünsche: Ich muss nicht mit allem deckungsgleich oder einverstanden sein, aber ich bemühe mich, jedem Respekt entgegenzubringen und seine Sichtweise nachzuvollziehen. Ach, du siehst vermutlich wie ich, das gelingt nicht bei jedem gleich gut.
Übrigens ist es auch die Differenzierung, was die Lektüre von Sachbüchern oder Romanen unterscheidet: Im Roman fühle ich mich vor allem wohl, wenn ich mich da hineingleiten lassen kann wie in ein Schaumbad (oder bei manchen Krimis in einen Eiswasserbottich). Ich versinke in der Handlung und sehe und empfinde die Handlung in mir und rundum. Gelingt mir das nicht, stehe ich quasi daneben, dann fremdele ich mich durch das Buch.
Beim Sachbuch suche ich je nach Situation mal den Wissenszuwachs, mal die Bestätigung, mal die Auseinandersetzung. Ich kann mich auf die Seite des Autors stellen oder auf die „andere“ Seite, ich darf auch die Position wechseln, wenn mir ein Erkenntnisgewinn kommt (einen eigenen Standpunkt haben heißt auch, ihn von Zeit zu Zeit zu überdenken). Ich muss nicht mit allem „D’accord gehen“, wie es so schön heißt, aber ich erwarte von einem guten Sachbuch eine ordentliche Argumentation.
Die nächsten Bücher in Arbeit sind „Freischwimmer“ von Torsten Hebel und „Die Angstprediger“ von Liane Bednarz. Die sind beide sicher aufwühlend, obwohl es sich um Sachtitel handelt. Zur Erholung lese ich aber abends vor dem einschlafen gerade „Bretonische Verhältnisse“ von Jean-Luc Bannalec. Und jetzt lach nicht, weil ich damit so spät dran bin. Auch eine Buchhändlerin kann nicht alles gleichzeitig lesen 😉
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