Entschuldigung für die provokante Überschrift. Oder auch nicht. Aktuell lese ich dieses Buch von Maja Göpel, sie ist eine der GründerInnen von Scientists for Future. Macht es sie am Anfang noch sympathisch, dass sie aus Ostwestfalen stammt und ziemlich unkonventionell aufgewachsen ist, so ist es danach einerseits ihre unstillbare Neugier auf die Zusammenhänge komplexer Sachverhalte, die sie seit Jugendzeiten hat und andererseits ihre Fähigkeit, diese Zusammenhänge auch einem Laien durch Praxisbeispiele aus der „realen“ Welt super zu erklären.
Sie hat das Buch vor Corona geschrieben und herausgebracht, zu einer ganz anderen Zeit, lange her … im Winter 2019/20. Ja, es kommt einem augenblicklich tatsächlich sehr entfernt vor. Aber sie könnte es, zumindest die Kapitel, die ich bisher gelesen habe, genausogut in die aktuelle Situation hineingeschrieben haben. Die Gedanken, die sich mir dazu aufdrängten, folgen:
In den ersten Wochen der Einschränkungen ploppten altruistische Werte wie Fürsorge, Nächstenliebe, Dankbarkeit auf. In den sozialen Netzwerken wurden die Alltagshelden gefeiert, Menschen versicherten sich gegenseitig, wie groß ihre Hoffnung sei, dass diese Krise die Gesellschaft verändern möge, natürlich zu menschlichen statt wirtschaftlichen Werten. Eine große Sehnsucht war erkennbar, nach einem verlangsamten Leben mit Zeit für Dinge, die man sonst im Hamsterrad nicht schafft – aber spätestens nach vier Wochen wurden die Rufe nach dem „alten Leben“ lauter. Vor allem angefeuert von der Wirtschaft. Und damit auch die Forderung, die Folgen der Krise mit den alten (uralten) Methoden des ökonomisch messbaren Wachstums zu bekämpfen. Was das bedeuten könnte? Nun, hier ist ein Beispiel:
Ein Tankerunglück, das einen Küstenabschnitt mit Öl verpestet, lässt das BIP (Anm.: Bruttoinlandsprodukt) ansteigen, weil es dazu führt, dass Firmen kommen und das Öl vom Strand kratzen und also Dienstleistungen erbracht werden. Die Schäden, die durch die Ölpest im Ökosystem angerichtet werden, schlagen sich im BIP nicht nieder, weil Natur – wie wir gesehen haben -, solange sie einfach nur da ist, in keiner ökonomischen Bilanz auftaucht. Ein Vater oder eine Mutter, die nach der Geburt ihres Kindes eine Zeit lang zu Hause bleiben und nicht ins Büro gehen, senken dagegen das BIP. Denn das Wohlgefühl des Kindes und der Eltern, die ihr gemeinsames Leben zusammen beginnen, zählt hier nicht. (S. 79)
Zurück ins Jetzt: Schaut man sich mal an, wem wie Unterstützung angeboten wird, sieht man, wo die Prioritäten liegen: Große Konzerne und Industrie. Staatshilfen (aber der Staat soll bitte trotz reingepumpten Geldes nix zu sagen haben …) und Kurzarbeitergeld (unbestritten für die betroffenen Arbeitnehmer wichtig zur Sicherung des elementaren Lebensunterhaltes). Aber die Beträge, mit denen Klein- und Kleinstbetriebe abgespeist werden, der Pizzabäcker von nebenan oder die kleine Frühstückspension, der Campingplatz oder Friseursalon mit wenigen Angestellten, die spotten jeglicher Realität! Soloselbständige, die aus dem eigenen Haus arbeiten oder Künstler und Kulturschaffende werden gar gleich zum Jobcenter auf Hartz IV geschickt!
Überhaupt: Gastronomie, Kinos, Theater, Schauspieler und Schausteller und viele mehr, alle, die das Leben außerhalb der Arbeitszeit angenehmer machen, für diese vielen Menschen (die uns anderen die letzten sechs Wochen mit viel Kreativität und Bereitschaft zu unkonventionellen und unbezahlten Wegen die Zeit im Shutdown vertrieben haben) gibt es auch bis heute kaum eine Perspektive.
Der Bereich Bildung, von der Kita bis mindestens zum Abitur (wie es gerade an Hochschulen aussieht, kann ich nicht beurteilen) stolpert von einer KMK zur nächsten. Und die teilweise hilflos anmutenden Beschlüsse (150€ Zuschuss für ein Tablet. Müssen wir wohl die nächste Aldi-Kampfaktion abwarten…) werden dann immer weiter abwärts delegiert, bis sie bei den Schulträgern ankommen. Die haben dann den schwarzen Peter. Sind jahrzehntelang kaputtgespart worden und sollen von null auf hundert zu hygienischen Vorzeigebetrieben mutieren. Sollen beurteilen, wie ein sicherer Unterricht für Schüler und Lehrer aussehen kann, die irgendwelchen Risikogruppen angehören.
In der Pflege, deren „Systemrelevanz“ plötzlich auch dem Letzten klar wurde, sollen die Menschen einen BONUS bekommen. Bis zu 1.500€, gestaffelt nach Ausbildungsniveau! Dann können sie sich auch mal so ein klitzekleines bisschen wie ein Konzernmanager oder Investmentbanker fühlen …
A propos „Systemrelevanz“. Da wird ja schon wieder sortiert, nach dem Nutzen von Menschen. Wer ist gerade wichtig, um die Gesellschaft am Laufen zu halten? Natürlich sind es ganz offensichtlich diejenigen, die weiterhin an der „Arbeitsfront“ (gruseliges Wort übrigens) stehen. Aber sind es nicht genauso auch alle anderen? Die, die gerne arbeiten würden, es aber gerade nicht dürfen. Die, die zuhause Erziehung (inklusive altersgemäße Bildungsangebote für den Nachwuchs) und Home Office unter einen Hut bringen müssen? Die Kinder, die Freunde nicht sehen können, sich nicht verabreden dürfen, den Spielplatz nur aus der Ferne sehen? Die Alten und Kranken, die ohnehin schon ein eingeschränktes Sozialleben führen und sich nun bis an die äußerste Grenze weiter bescheiden müssen? Ach nee, die sind „Risikogruppe“. Die müssen da durch. Ich denke, du verstehst, was ich meine.
Den Gesundheitsexperten, die am Virus und seiner Ausbreitung forschen, wird inzwischen vorgeworfen, dass nicht jede Annahme oder Arbeitsthese sich als haltbar herausstellt. Dass sie zurzeit nicht unter Laborbedingungen, sondern in Echtzeit ein höchst lebendiges Geschehen mit erwarteten, aber auch überraschenden Wendungen als Studienobjekt haben, wird da gern beiseite geschoben. Es gibt bei Corona keinen Elfenbeinturm!
Auf der anderen Seite schlägt aber bereits nach so kurzer Zeit wieder die Stunde der Populisten jeglicher politischen Couleur. Alternative Fakten machen die Runde und Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur.
Während sich „im Kleinen“ immer noch unglaublich viele Menschen einen Paradigmenwechsel mit mehr Wertschätzung und Empathie wünschen, schaffen es die weltweiten politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen leider doch wohl nicht, den beladenen Tanker in voller Fahrt zu wenden. Und die Kaimauer kommt unaufhaltsam näher …!
Nachsatz: Viele Menschen in den unterschiedlichsten Bereichen haben in den letzten Wochen sehr starke Leistungen vollbracht und hatten auch den Mut, unpopuläre, aber notwendige Entscheidungen zu treffen. Hut ab! Ich bin sehr froh, dass ich nicht in deren Haut stecke. Dieser Beitrag soll das auf keinen Fall klein reden. An manchen Stellen habe ich auch bewusst provokant geschrieben. Es geht nicht um Patentlösungen, eine solche habe ich auch nicht. Aber:
Ich wünsche mir, dass möglichst viele sich einfach Gedanken machen, was alles möglich wird, wenn wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel stehen. Wobei es auch dabei keine einfachen Lösungen gibt, aber Abwägungen. Denn weiterhin steht nicht nur unsere Wirtschaft auf dem Spiel, sondern auch unsere Welt, in der wir leben. Und wenn die Lebensgrundlagen ökologisch nicht mehr gegeben sind, nützt im Endeffekt auch keine noch so ausgeklügelte Ökonomie. Meine Befürchtung ist, wir verpassen alle miteinander die Chance, die in der Krise steckt. Die Menschheit ist aus vielen kleinen und großen Krisen stets gestärkt hervorgegangen, durch mutige Innovationen und unkonventionelle Wege. Der Mut fehlt gerade in bisher erfolgreichen Wirtschaftszweigen aber total und auch Innovation steht bei den Geldgebern eher nicht so im Kurs. In weiten Teilen wird leider aktuell versucht, mit den Mitteln aus der Zeit der industriellen Revolution Probleme zu lösen. Ich lasse mich aber sehr gern vom Gegenteil überzeugen. Wenn du Beispiele kennst, schreib mir gern in die Kommentare.
Bis dahin lese ich das Buch zu Ende und nähe noch ein paar Masken😉
Bibliographische Angaben: Maja Göpel, Unsere Welt neu denken
Ullstein Verlag, ISBN 978-3-550-20079-3, 17,99€
Das Buch habe ich selbst aus Neugier gekauft. Es besteht keine geschäftliche Beziehung zum Verlag oder der Autorin!
Gefällt mir:
Like Wird geladen …
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.