Ein kranker Hund kommt selten allein

Als ob es noch nicht reicht, dass wir uns Sorgen um Lucy machen. Seit gestern Mittag macht auch Kalle uns Kummer. Es begann damit, dass er lahmte. Aber je nachdem, wann man sich sein Gangbild anschaute, war es mal die rechte Hinterhand, mal die rechte Vorderpfote, die er nicht belastete. Dazu wurde er total ruhig. Der Klavierstimmer am Mittag wurde noch wie gewohnt begrüßt, mit viel Imponiergehabe und Krach, aber als nachmittags eine Freundin klingelte, stand er mühselig auf, machte einmal „Wuff“ und legte sich wieder hin. Abends fraß er zwar, aber auch das im Schneckentempo. Und dann legte er sich hin. Nur, um sich vom Wohnzimmer in den Flur auf sein Kissen umzubetten, war er später noch einmal zu bewegen, sich auf den Weg zu machen.

Heute früh hüpfte kein Hund um mich herum, der nach meinem Aufstehen sofort seine Kaustange forderte. Er schleppte sich mit mir in die Küche, legte sich unter den Tisch (was natürlich nach einiger Zeit zum Konflikt mit Lucy führte, da sie den Platz auch für sich haben wollte). Er legte matt den Kopf ab und schaute mich nur traurig an. Trinken wollte er auch nicht, also befeuchtete ich mehrfach meinen Zeigefinger und rieb ihm die inneren Lefzen etwas feucht.

Ich hatte ihn gestern Abend schon untersucht (und er ließ es untypisch geduldig über sich ergehen): Keine eingetretenen Fremdkörper, keine heißen Beine, keine Wunden irgendwo am Körper, nichts. Aber es tut weh, zu sehen, wie viel Arbeit ihm das Aufstehen macht.

Also gingen mir beim ersten Kaffee Schreckensvisionen von Schlaganfall, Vergiftung und allen möglichen Katastrophen durch den Kopf, und als die Tierarztpraxis um 9 Uhr öffnete, standen wir schon vor der Tür. Zumindest dort ging er wie ein Musterschüler hinein, ich vermute, er wollte sich vor dem Jack Russell, der dort auch wartete, nicht blamieren.

Wie es aussieht, hat er sich vermutlich beim Springen einen Nerv eingeklemmt oder einen Muskel gezerrt, denn er hat einen deutlichen Flankenschmerz gezeigt bei der Tastuntersuchung. Erst gab es eine Schmerzspritze und dann die Leckerchen, die es nur beim Tierarzt gibt. Dazu Schmerztabletten für die nächsten Tage. Mal sehen, wie es weitergeht. Er trinkt immer noch nicht freiwillig, es sei denn, ich rühre ihm „Hunde-Lassi“ an: Naturjoghurt mit Wasser verdünnt schlabbert er auf. Danach darf es dann sogar noch ein Schlückchen Wasser pur sein.

Er legt sich immer dort hin, wo sich jemand aufhält und liegt dann stundenlang da herum und schaut regelrecht trübsinnig in die Gegend. Es geht ihm eindeutig nicht gut. Und ich fühle mich wie eine Mutter mit krankem Kleinkind: Solange die Kinder quicklebendig durch Haus und Garten springen, wünscht man sich etwas mehr Ruhe, aber wenn sie krank im Bett liegen und keinen Mucks von sich geben, dann möchte man doch lieber wieder den anderen Zustand.

Während ich das hier schreibe, hat er sich zu mir ins Büro geschleppt. Doch ich muss gleich wieder in die Küche, wo Hähnchenherzen mit Möhren für die beiden Hundepatienten vor sich hin köcheln. Und wenn er sogar darauf keinen Appetit hat, schadet ihm das auch nicht wirklich: Kalle und ich haben beide an Gewicht zugelegt seit meinem Unfall🙄. Hauptsache, er kommt wieder auf die Beine.

Eigentlich soll er nächste Woche seine Ausbildung als Bootshund beginnen…

Ach, Lucy

Es wird immer schwieriger, sie beim Tierarzt in die Praxis zu bugsieren. Schieben, ziehen, gut zureden. Und das arme Tier zittert und fängt vor Stress an zu haaren. Seit letzten September musste sie sich ja auch einiges gefallen lassen, inzwischen heult sie die ganze Praxis zusammen, wenn ich sie auf den Tisch hebe.

Sie hat altersgemäß gute Blutwerte, Herz und Lunge sind auch, wie mit 13 Jahren zu erwarten, Schilddrüse in Ordnung, Nieren auch.

Aber sie leckt sich stundenlang alle möglichen Körperteile und gerät auch dabei immer wieder in Stresszustände, was sich in akuter Atemnot äußert. Sie hätte es am liebsten, wenn sie den ganzen Tag unter dem Küchentisch liegen könnte – aber bloß nicht allein sein dabei. Ich kann allerdings nicht alles von der Küche aus managen. Sie steht vor der Tür und will raus, ist sie draußen, macht sie kehrt und will wieder rein. Oder sie war draußen, hat alles verrichtet und jammert zwei Minuten später wieder vor der Tür.

Sie verliert die Orientierung und vergisst Kommandos. Sie steht mitten im Flur und fiept in den höchsten Tönen, regelrecht hysterisch. Und vor allem nachts. Dann stehe ich auf, geleite sie wieder an ihren Platz und rede ihr gut zu. Bis zum nächsten Mal… Selbst das Essen ist eine merkwürdige Sache geworden. An manchen Tagen kann sie mit dem Inhalt ihres Napfes nichts anfangen, außer den Fußboden damit zu dekorieren. Ganz liebevoll, Bröckchen für Bröckchen. Und dann steht sie daneben und schaut mich groß an.

Inzwischen hat sie auch bereits zweimal nach mir geschnappt (sie mag nicht mehr gebürstet werden und Pfotenpflege lässt sie kaum noch zu), und vor drei Tagen hat sie Kalle heftig gezwickt, so dass er laut gequiekt hat. Dabei ist er eigentlich hart im Nehmen. Zweimal am Tag schnappt sie ihn hinter den Ohren am Fell und schüttelt ihn durch (so wie das bei einem gleichgroßen Hund halt möglich ist). Noch lässt er sich das gefallen, aber auch ihm ist Ungeduld anzumerken.

Das Jammern und Fiepen zermürbt Edgar und mir inzwischen das Nervenkostüm, das aus ganz anderen Gründen recht dünn geworden ist. Das Luftreißen tut uns in der Seele weh. Ihre Tätlichkeiten beunruhigen uns. Ganz offensichtlich fühlt sie sich über weite Teile der Tage nicht wohl. Und seit einer Woche bekommt sie Tabletten, die die Hirndurchblutung fördern sollen, da der Tierarzt inzwischen CDS, eine Hundedemenz, für sehr wahrscheinlich hält. Allerdings habe ich augenblicklich das Gefühl, dass sie noch nervöser und unruhiger wird damit.

Aber dann gibt es immer wieder die Augenblicke, in denen sie sich freut und ihre Rute dabei rotiert wie der Rückenpropeller von Karlsson (vom Dach), Momente, in denen sie uns vertrauensvoll aus ihren großen braunen Augen ansieht.

Ich weiß nicht, wie lange das noch gutgeht. Woran erkennen wir, wann der Zeitpunkt gekommen ist, dass sie sich mehr quält als alles andere? Und dass ihr Jammern und Weinen nicht einfach eine Macke ist, sondern sie nicht mehr kann? Und ist es egoistisch oder barmherzig, sie irgendwann erlösen zu lassen?

Ich bin ganz einfach ratlos.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich bin müde. Ja, ich weiß, Sie auch. Lange Debatte und wenig Schlaf. Aber nicht nur Sie und ich sind müde, sondern vermutlich an die 80 Millionen Menschen in unserem Land. Müde, sauer, resigniert.

Klar kann es sein, dass Sie gute Gründe für Ihre Entscheidungen hatten, aber dann erklären Sie die bitte so, dass es jede Mutter versteht, die sich Sorgen um die körperliche und seelische Entwicklung ihrer Kinder macht. Jeder Mann, der nicht mehr weiß, wie er seine Familie durchbringen soll, wenn das Ersparte für die Altersvorsorge aufgebraucht ist, weil seine Ein-Mann-Veranstaltungstechnik-Firma am Ende ist. Erklären Sie es denen, die in Branchen wie Facheinzelhandel, Tourismus, Gastronomie, Kunst und Kultur kein Licht am Horizont sehen, weil ihre Existenzen von kleinen inhabergeführten Betrieben abhängen und nicht von den Konzernen, die gepampert wurden.

Unzählige Menschen warten auf Signale, die einen Aufbruch signalisieren. Einen Aufbruch in eine Zeit, in der wir tatsächlich hoffentlich sagen können: „Wir haben einen Weg gefunden, mit diesem Virus zu leben.“ Am besten sogar: „Wir haben gemeinsam einen Weg gefunden…“ Menschen so wie meine Familie und ich und viele andere, die bisher alles mitgemacht haben, was verlangt wurde. Manchmal auch wider besseres Wissen, aber im Bewusstsein, dass wir auch nicht die Patentlösung haben. Leute, die wütend sind auf diejenigen, die auf jegliche Regel und Vorsicht pfeifen und anscheinend trotzdem machen dürfen, was sie wollen! Unter den Augen des Staates. Leute, die aber trotz dieser Wut nicht auf die Idee kämen, sich hinter Kindern zu verschanzen, damit die Wasserwerfer nicht eingesetzt werden.

Mir ist bewusst, dass die Sicherheitskräfte einen sehr schwierigen Beruf haben, dass es stets eine Balance geben muss zwischen der Aufgabe, Recht und Gesetz durchzusetzen und dem nicht minder schwerwiegenden Selbstschutz, der zurzeit eben auch bedeutet, dass man sich tunlichst nicht anspucken lassen will. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass es überhaupt keine bisher aufgetretenen Situationen gibt, die man als Blaupause verwenden und angemessen abwandeln kann.

Ich verstehe nicht, wie es möglich sein kann, dass Gesundheitspersonal, egal ob in Krankenhäusern, Seniorenheimen oder Arztpraxen ständig am Anschlag arbeitet, auch öffentlichkeitswirksam nicht nur die Missstände anprangert, sondern auch Lösungsvorschläge anbietet, nicht viel mehr gehört wird. Oder weshalb sie vielleicht sogar gehört werden, aber niemand in die Hände spuckt und sagt „Dann gehen wir das jetzt an!“

Ich habe es oben schon erwähnt, ich gehe davon aus, dass wir lernen müssen, mit dem Virus zu leben, mit großer Wahrscheinlichkeit auch noch mit anderen Gesundheitsbedrohungen. Dazu steht der Klimawandel wie ein Berg vor uns. Deswegen kann es doch keine Dauerlösung sein, die nächsten Jahre „auf Sicht“ zu fahren. Wir brauchen Ansätze, die es uns in der breiten Masse möglich machen, einigermaßen optimistisch in die Zukunft zu blicken, Kraft zu schöpfen und dann entschlossen die Herausforderungen der Zukunft anzugehen.

Aber bitte doch nicht mit so schlecht nachvollziehbaren Entscheidungen, wie Urlaub auf Mallorca für die Kunden von Lufthansa, TUI und wie die großen Anbieter alle heißen, zu erlauben, aber nicht ein paar Tage frische Nord- oder Ostseeluft auf einem Campingplatz oder in der Ferienwohnung. Ganz davon abgesehen, dass die Spanier es vermutlich eher mittelmäßig gut finden, wenn Deutschland neue Infektionen auf die Insel schleppt, die Festlandspanier derzeit nur auf alten Urlaubsfotos betrachten dürfen.

Nicht mit Bundesligaprofis, die sich zum Torjubel in die Arme fallen, weil sie ja bestens getestet sind, aber ich soll meine Freundin nicht zum Trost umarmen, weil wir ja potenzielle Virenschleudern sein könnten!

Ein weiteres No Go sind MPKs, über deren Ergebnisse bereits drei Tage vorher in der Boulevardpresse spekuliert wird, weil einige Themen offenbar durchgesickert sind. Und dann, nach deren Ende, oft die Tinte unter den Vereinbarungen noch nicht trocken ist, ehe die ersten Ministerpräsidenten ausscheren und verkünden, dass sie es aber anders machen. Wen wundert es, dass sich immer mehr Menschen nicht repräsentiert fühlen und der Meinung sind, sie hätten es mit einem Hühnerstall zu tun, in dem zu viele Hähne krähen.

Sie haben Referenten in Ihren Ministerien. Referenten für Öffentlichkeitsarbeit und Social Media. Lesen die eigentlich genau, was auf den Plattformen geschrieben wird? Nicht nur die Shitstorms, sondern auch die vielen klugen und kreativen Vorschläge, die von Ärzten, Lehrerinnen, Einzelhandelskaufleuten, Gastronomen, Kunstschaffenden…, also von Leuten gemacht werden, die jeden Tag in ihrem jeweiligen Metier praktisch arbeiten oder das zumindest gerne tun würden?

Gibt es irgendwo eine (virtuelle oder körperliche) Riesenpinnwand, an der man alle diese Ideen sammelt und für ein Brainstorming verwendet? Wer kennt sich denn besser in den Lebens- und Arbeitsbereichen aus als diejenigen, die sie Tag für Tag leben?

Ein weiterer Pool, der meiner Meinung nach in dieser Situation angezapft werden sollte, ist die Opposition. In diesem Boot sitzen wir alle, warum nicht die, deren Job quasi das Meckern über die Regierung ist, in die Verantwortung holen? Mosern darf nur, wer mindestens eine gute Idee mitbringt, wie es besser geht.

Wenn wir als Land einigermaßen gut und vielleicht sogar noch etwas gestärkt und mit Resilienz aus dieser Situation herauskommen wollen, dann gelingt das nur, wenn möglichst viele über alle Sichtweisen hinweg mitmachen, sowohl bei der Expertise als auch bei allem, was zu tun ist. Die Möglichkeiten, ein breit gefächertes Schwarmwissen anzuzapfen, waren doch noch nie so groß wie heute!

So. Und nun können Sie meinetwegen milde lächeln und mich als spinnerte Sozialromantikerin abtun. Ich habe es ja auch relativ einfach, ich trage nicht Ihre Verantwortung. Im Übrigen weiß ich es zu schätzen, dass Sie die auf sich genommen haben.

Ich bin fest davon überzeugt: Wir können mehr erreichen als das, was derzeit läuft. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass wir dazu ein Stück von der deutschen Gründlichkeit und (so leid es mir tut, unserer Gesellschaft diese Eigenschaft zuzuordnen) Überheblichkeit abgeben müssen. Hier passt keine DIN-Norm, hier ist Kreativität und Innovationsgeist gefragt. Im Augenblick kommt allerdings eher Mutlosigkeit an. Schade.

Bitte: Seien Sie mutig.

Mit freundlichem Gruß

Ich habe diesen ganzen Sermon heute als Offenen Brief an die Staatskanzleien gemailt. Nachdem ich heute früh die Ergebnisse der MPK hörte und las, war mir zum Heulen zumute.

Ich begreife so einiges nicht mehr. Ich begreife nicht, warum es besser sein soll, wenn vor Ostern ALLE am Samstag einkaufen, weil Donnerstag die Geschäfte geschlossen sind. Ich verstehe nicht, warum der Flieger nach Mallorca besser ist als der Strandspaziergang an der See oder eine Wanderung durch Eifel oder Heide.

Eben bekamen wir die Mitteilung, dass in der Schule ab morgen wieder Distanzunterricht ist. Dann werden wenigstens die Tests gespart, die natürlich erst am Freitag im Lauf des Tages dort angekommen waren. Nach Ostern wird es ja vermutlich irgendwann wieder losgehen.

Nur weil Anfang März der Mut nicht reichte, um zu sagen: „Wir halten jetzt noch bis zu den Osterferien die Füße still“ ? Was jetzt kommt, war doch mit Ansage. Und auch deswegen, weil (da müssen wir uns vermutlich so ziemlich alle ein wenig an die Nase fassen) wir unbedingt unsere „Freiheit und Selbstbestimmung“ zurück haben wollten.

Damit wir uns nicht falsch verstehen, wir müssen langsam wieder öffnen. Einen Bereich nach dem anderen, mit genauer Beobachtung, was passiert. Wir brauchen Perspektiven.

Was aber nicht geht, sind Szenen wie am Samstag in Kassel. Immer wieder heißt es, wir müssten doch denen, die nur ihre Freiheit verteidigen wollen, mit Verständnis begegnen. Aber nicht, indem man sämtliche Regeln bricht und nicht im Schulterschluss mit Antidemokraten!

Ganz klar gesagt: Ich habe nicht nur Freiheit, sondern auch die Verantwortung für meine Kinder, den Ehemann, den Rest der Familie. Und ich könnte kotzen, wenn ich wegen diverser chronischen Erkrankungen bei mir (gleich drei Risikofaktoren) und in der Familie vorsichtig bin und deswegen als Schlafschaf bezeichnet werde.

Deswegen habe ich mir die Mühe gemacht und die Email-Adressen der Staatskanzleien rausgesucht. Bremen und Hamburg habe ich aufgegeben, da hab ich mich auf den Homepages verfranst. Weil meine bescheidene Möglichkeit der Einflussnahme ist, meinen Frust kundzutun, relativ höflich, aber bestimmt. Mal sehen, ob sich jemand zurückmeldet…

Sonntagmorgenfrühstücksetüde

Danke für die Schreibeinladung von Christiane und die Wörter von Puzzleblume. Nachdem ich eine Runde ausgesetzt hatte (tut mir leid, mit „Klassenkeile“ fiel mir nichts ein, das ich schreiben mochte), fällt mir hier prompt ein Sonntagmorgenquickie ein. Der Brötchenduft aus meinem Backofen hat mich inspiriert und anders als in der Geschichte habe ich sie auch soeben ohne Pfoten verbrennen aus dem Ofen genommen😄

Scheppernd lasse ich das heiße Backblech auf die Herdoberfläche fallen. Mist, schon wieder neben dem Topflappen hergefasst…! Ich blicke zu den Hunden. Lucy putzt sich unbeeindruckt, wie eigentlich immer. Kalle dagegen versucht, ob des unerhörten Lärms seine Stirn in Dackelfalten zu legen, was einem Aussie naturgemäß eher mäßig gelingen kann. Egal. Alles ist vergessen, wenn auf dem frischen, knusprigen Brötchen die fruchtige Marmelade zum Reinbeißen einlädt.

66 Wörter

Über Pest, Cholera und verbale Abrüstung

Die Nerven werden stündlich dünner. Seit einem Jahr begleiten uns Unsicherheiten und Widersprüche auf Schritt und Tritt.

Nur ein paar Beispiele:

  • Erst hieß es, Masken nützen nichts, dann wurde diese Einschätzung revidiert und über den Umweg Alltagsmasken landeten wir beim heutigen Stand. (Ich weiß, dass Wissenschaft eine lebendige Sache ist, die von Erkenntnisgewinn lebt. Das ist nicht mein Problem.)
  • Ein und dieselbe Maßnahme ist den Einen zu lasch, den Nächsten zu restriktiv.
  • Der Inzidenzwert, der uns als Grenzwert genannt wurde, lag zunächst bei 50, dann bei 35 und jetzt ist er bei 100 (und wie es aussieht, hat diese Zahl 100 ziemlich unterschiedliche Interpretationen in einigen Bundesländern).
  • Wird regional entschieden, gibt es Regelwirrwarr und einen Geschäftstourismus aus Risikogebieten in Nicht-Risikogebiete. Wird deutschlandweit entschieden, ist das wie Sippenhaft.
  • Schützen wir durch AHA-L und vor allem durch das Impfen zunächst die vulnerablen Gruppen, bleibt die Infektiosität bei den jüngeren und aktiveren Menschen hoch, aber die Sterblichkeit sinkt (zunächst). Impfen wir aber bevorzugt diejenigen, die in der Öffentlichkeit arbeiten, sinkt die Infektrate, aber die Sterblichkeit bleibt höher.
  • Schicken wir die Kinder in Schulen und Kitas, steigt neben ihrer psychischen Gesundheit aber andererseits das Infektionsrisiko, das sie unter anderem in ihre Familien tragen können (was die Kids dann durch Schuldgefühle auch wieder belasten kann). Lassen wir sie zu Hause, steigt die (Mehrfach-) Belastung im familiären Umfeld.

Wir haben also so gesehen in vielen Fällen die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Ich könnte noch unzählige Beispiele nennen. In jedem Fall hat jede unterschiedliche Ansicht ihre Berechtigung aus der Sicht Betroffener. Es ähnelt der Quadratur des Kreises. Als letztes Jahr um diese Zeit der erste Lockdown verkündet wurde, meinte ich zu Edgar: „Die werden machen können, was sie wollen, es wird immer falsch sein!“ Ich hätte mir gewünscht, mit dieser Aussage nicht ins Schwarze getroffen zu haben. Wisst ihr was, ich bin heilfroh, dass ich „nur“ Verantwortung für meine Familie und mein persönliches Umfeld habe. Ich möchte ehrlich gesagt nicht in der Haut stecken von jemandem, der in der Position steht, mit seinen Entscheidungen auch über Gesundheit, berufliche Existenz, Bildungserfolg oder andere Lebensbereiche von 80 Millionen Menschen Verantwortung zu übernehmen.

Es ist unbestreitbar nicht nur vieles gut gemacht worden bisher, sondern es sind auch einige Dinge ganz gewaltig daneben gegangen, häufig übrigens gar nicht mal durch die Entscheidungen selbst, sondern entweder über schlechte Kommunikation oder durch die Tatsache, dass eine Runde von 17 Menschen etwas beschließt und mindestens die Hälfte davon etwas ganz anderes macht, oft schon, bevor die Tinte unter den Vereinbarungen trocken ist! Da ist es dann irgendwann kein Wunder mehr, dass die Regierten abschalten.

Das alles ist schon schwierig genug. Aber was mir so richtig gewaltig auf den Keks geht, ist die von Kriegsvergleichen und verbalen Waffen strotzende Rhetorik. Meist übrigens von den Herren der Schöpfung. Dabei ist es eigentlich sogar egal, ob sie auf der Regierungsbank oder in der Opposition sitzen. Die Damen sind da etwas feinfühliger mit der Wahl der Worte, aber insgesamt wünsche ich mir von allen Seiten einen sachlicheren Umgang. Ich wäre außerdem sehr dafür, dass man die Oppositionellen nicht nur Kontra geben lässt, sondern sie auffordert, mit konstruktiven Beiträgen zur Lösung einiger Probleme beizutragen. Denn in dieser Pampe sitzen wir alle gemeinsam!

Und nein, ich kann auch kein bisschen Verständnis dafür aufbringen, dass einige Politiker so dreist sind, diese Pandemie dazu ausnutzen, sich zu bereichern. Da wird noch ein langer Weg notwendig sein, Vertrauen wiederherzustellen, obwohl davon auszugehen ist, dass die meisten Parlamentarier ordentlich arbeiten.

Was mich in den letzten Tagen zunehmend befällt, ist ein wachsendes Gefühl der Hilflosigkeit. Mein Optimismus verkriecht sich stundenweise in ein Schneckenhaus. Ich bin ratlos, wenn ich sehe, dass Menschen, mit denen ich schon gut und vertrauensvoll zusammengearbeitet habe, den Weg des Konsens verlassen und nur noch schwarz oder weiß sehen. Ich möchte auch manchmal ausbrechen, aber wohin? Also mache ich weiter, ich mag unsere demokratische Gesellschaft nicht aufgeben, ich möchte mein Zutrauen nicht verlieren, dass wir gemeinsam eine ganze Menge schaffen können, und ich möchte mein Vertrauen in manche bisherigen Weggefährten nicht wegwerfen, aber ich habe auch Angst vor manchen Tendenzen in unserer Gesellschaft. Nein, Angst trifft es auch nicht ganz. Es ist eher ein Gefühl der Ohnmacht.

Ein Gefühl von Verlust. Verlust einer Gesellschaft, die von Gemeinsamkeit und Aufbruch, aber auch von einem moralisch-ethischen Kompass geprägt ist. Hin zu einer Zusammenrottung von Individuen, die nur ihren eigenen Vorteil zum Maßstab ihres Handelns machen. Ach Scheibenhonig, ich will das nicht. Ich möchte mich viel lieber fröhlich auf den Frühling freuen.

An alle, die bis hier durchgehalten haben: danke fürs Auskotzen dürfen. Es wird schon wieder.

Selbstbild(nis)

Heute gibt es mal wieder eine kleine Presseschau. Im „Panorama“-Teil unserer Tageszeitung (daher möglicherweise auch in vielen anderen Tageszeitungen) steht ein Artikel über den neuesten Trend bei Schönheitsoperationen, vor allem in den USA (und damit ist schon fast vorprogrammiert, dass es über kurz oder lang hier ankommen wird):

Durch Lid- und Halsstraffung, Hautglättung per Laser, Botox-Spritzen und das Entfernen von Tränensäcken mehr „Zoom-Selbstvertrauen“. Menschen sehen sich das erste Mal „live in action“, wenn Besprechungen nur noch am Bildschirm stattfinden. Und sie halten es mit sich selbst nicht aus.

Wie kommt das zustande? Ich denke mal, es ist wichtig und richtig, dass wir ein positives Bild von uns selbst haben. Und wann schauen wir uns im Spiegel an? Meist doch dann, wenn wir uns „präsentabel“ machen. Beim Rasieren, Zähneputzen, Schminken. Aber in diesen Situationen sind wir hochkonzentriert, uns nicht das Gesicht zu zerschnippeln, alle Zahnbeläge weg- und stattdessen den Lidstrich genau in der richtigen Stärke hinzubekommen.

Hier gibt es keine anderen, die eine Personalbeurteilung abgeben, eine flapsige Bemerkung über eine Marketingkampagne machen, eine politische Berichterstattung kommentieren. Also solche Situationen verursachen, bei denen wir im Gespräch nach Luft schnappen, das Gesicht verziehen oder sonst irgendwie spontan unserer Gefühlsregung Ausdruck verleihen. Und normalerweise sehen wir uns selbst nicht, wie wir in diesen Augenblicken aus der Wäsche gucken. Zoom, Teams oder wie die ganzen Apps heißen, sorgen aber dafür, dass wir in diesen Momenten nicht nur mit den Reaktionen unserer Mitmenschen konfrontiert sind, sondern uns selbst quasi von außen beobachten. Und das ist oft schwierig, denn ein Stück weit zerbricht dabei unser Selbstbild. Wir sind vielleicht nicht immer so eloquent und kommen nicht so souverän rüber, wie wir es uns wünschen. Aber bis 2020 wurden wir damit eher auf Videos von Familienfeiern konfrontiert, also im Umgang mit Leuten, die uns von klein auf kennen. Und konnten es vielleicht auch noch auf zu reichlichen Alkoholkonsum schieben. Jetzt sehen wir, dass wir auch im beruflichen Umfeld manchmal etwas schräg oder unbeholfen wirken, und durch die Live-Umgebung besteht nicht einmal die Möglichkeit, mit Photoshop oder Filter-Apps zumindest einen (vermeintlich) ästhetischeren Anblick zu liefern.

Dazu fällt mir eine Frage ein: Die meisten Menschen, die uns über Zoom zu sehen bekommen, kennen uns doch schon länger auch persönlich. Und sie arbeiten trotzdem (oder gerade deswegen?) immer noch mit uns zusammen, ob an großen Projekten oder in ehrenamtlichen Kreisen. Wir können davon ausgehen, dass sie nicht bei jeder Begegnung darüber nachdenken, wann wir endlich mal was gegen unsere unerträglichen Schlupflider unternehmen oder dass an den Falten an unserem Hals unser wahres biologisches Alter zu erkennen ist.

Oder machst DU das permanent mit deinen Gesprächspartnern? Wenn zu viele von uns auf diese Frage mit „Ja“ antworten, dann haben wir als Gesellschaft allerdings ein Problem, das auch mit Skalpell und Botox nicht zu lösen ist.

Sehr wichtig hierbei: Mir ist durchaus bewusst, dass es nicht wenige Menschen gibt, die unter ihrem Aussehen sehr leiden. Sei es, weil sie von Geburt an unter bestimmten körperlichen Merkmalen leiden, die nicht alltäglich sind oder weil sie als Unfallfolgen oder ähnliches mit Entstellungen zu kämpfen haben. Für diese Menschen ist die kosmetische Chirurgie ein Segen. In diesem Beitrag spreche ich von Menschen mit einem ganz durchschnittlichen (normal trifft es nicht, auch durchschnittlich ist etwas schief, aber ich hoffe, ihr wisst was ich meine) Aussehen, bei denen ich es einfach schade finde, wenn sie sich so stark von Äußerlichkeiten lenken lassen, dass sie einen Teil ihrer gelebten Geschichte wegmachen lassen. Menschen, die mitten im Leben stehen, beruflich etabliert sind und in ihre persönlichen Netzwerke eingebunden.

Ich möchte anregen, darüber nachzudenken, warum wir so auf Eigenwirkung programmiert sind. Eine meiner Baustellen in dem Bereich ist übrigens: auf Fotos, wo ich mich unbehaglich fühle, wirke ich verkniffen. Fotos, die extrem gute Laune bei mir zeigen, zeigen eine Frau, die beim herzhaften Lachen Ähnlichkeit mit einem flehmenden Pferd aufweist. Gegen beides kann ich auch mit Chirurgie nichts ausrichten, das gehört einfach zu mir wie meine unperfekten Zähne. Deswegen mag ich Bilder von mir, auf denen ich erstens unbemerkt fotografiert wurde und zweitens ich mit mir selbst im Reinen bin oder mich in einem Umfeld bewege, wo ich die Menschen und die Thematik kenne.

Im beruflichen Umfeld heißt das: Wo ich mich in der Materie auskenne und Urteilskraft habe, da wirke ich unabhängig von der Stirnfalte und der etwas knolligen Nase kompetent und hoffentlich einigermaßen sympathisch. Wenn ich mit faltenfreiem Gesicht und Zahnpastareklamelächeln Stuss erzähle, bleibt es trotzdem Stuss und ich kann wetten, dass mindestens einer in der Runde das auch klar erkennt.

Alles muss sich ändern…

„…damit alles bleibt, wie es ist.“ Dieser Satz stammt aus dem Roman „Der Leopard“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa und beschreibt den Übergang zwischen Adelsherrschaft und Demokratie im Italien des 19. Jahrhunderts. Klingt vielleicht paradox, aber in einer Welt des Umbruchs kann nur Wandel zu einer Konstanten führen.

„Wer glaubt etwas zu sein, hat aufgehört etwas zu werden.“ sagte Sokrates. Gilt für Politiker genauso wie für manche Geschwister im Glauben.

Wer es eher mit Filmzitaten hält, kennt vielleicht dieses: „Wenn ich mich ändern kann, dann könnt ihr euch auch ändern, dann muss sich die ganze Welt ändern können.“ Das sagte der Boxer Rocky Balboa, dargestellt von Sylvester Stallone in den „Rocky“-Filmen. Finde ich weise, denn Veränderung kann nie nur eine einseitige Sache sein. Pingpong besteht eben immer sowohl aus Ping wie auch aus Pong.

Stephen Hawking wiederum konstatierte: „Intelligenz ist die Fähigkeit, sich dem Wandel anzupassen.“ Naja, hört sich etwas elitär an, aber so eine Art Basisintelligenz setze ich mal voraus.

Ich halte es nach Möglichkeit und Kräften (und da, wo es mir wirklich wichtig ist) am liebsten mit Mahatma Gandhis Wahlspruch „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“ Wohl wissend, dass es eine oftmals kräftezehrende Sache ist, ist es aber in einer Demokratie genau das, was meine Möglichkeit ist: Für Veränderungen aktiv und konstruktiv arbeiten, nicht nur meckern. Rein verstandesgemäß weiß das vermutlich fast jeder, aber die Umsetzung ist eben mühsam.

In der Realität habe ich es häufig eher mit „Alles soll sich ändern, aber bleiben, wie es ist“ * zu tun und ich finde das äußerst frustrierend. Dabei ist es eigentlich ziemlich egal, ob es sich um Kommunalpolitik, gesellschaftliche Debatte, Klimaschutz oder Gemeindearbeit handelt, die Beharrungskräfte für den vermeintlichen Status Quo sind überall groß. Ich habe verschiedene Facetten ja auch hier im Blog schon thematisiert.

Ich frage mich manchmal: Die Menschen, die sich nichts so sehr wünschen wie den Erhalt des jetzigen Zustandes, sind die sich bewusst, dass eben dieser Zustand, der für sie eine gemütliche Umgebung darstellt, die sie nicht verlassen möchten, andererseits für andere Menschen eine unbequeme Situation darstellt? Ein Hinnehmen einer Umgebung, die ihnen Unbehagen verursacht, schmerzlich ist oder sogar den Zugang zu einer Teilhabe verwehrt, die ihnen eigentlich auch zusteht? (Was ist überhaupt der jetzige Zustand? Im Moment, wo ich das Wort „jetzt“ schreibe, ist es schon wieder Vergangenheit.) Ist es den Beharrlichen, so will ich es einmal positiv benennen, egal, dass ihre Beharrlichkeit für Menschen mit anderen Bedürfnissen verletzend sein kann, wenn sie so weit geht, dass sie Normen diktiert, die vermeintlich den einzig richtigen Weg markieren?

Nun ist auf der anderen Seite aber auch die Veränderung selbst kein absoluter Wert. Natürlich gibt es Traditionen, gesellschaftliche Normen und Tabus, die unbedingt sinnvoll sind und die sich unter anderem in Gesetzen und Chartas niederschlagen (Grundgesetz, Charta der Vereinten Nationen, UN-Menschenrechtskonvention…). Es ist eine große Errungenschaft, dass man über Menschenrechte nicht immer wieder neu verhandeln muss. Das tägliche Miteinander allerdings, die Art und Weise, wie wir es ausgestalten und mit Leben füllen, das muss immer wieder neu ausgehandelt werden, anders ist keine Weiterentwicklung möglich. Auch unsere Vorfahren haben das immer wieder machen müssen, leider oft durch kriegerische Auseinandersetzungen, blutige Revolutionen oder Kirchenkämpfe. Die Herausforderung ist, friedlich und inklusiv eine Balance aus Bleiben und Weitergehen zu erzielen.

Einen hab ich noch: „Den Fortschritt verdanken wir den Nörglern. Zufriedene Menschen wünschen keine Veränderung!“    H. G. Wells, seines Zeichens Soziologe, Historiker und Schriftsteller, nicht nur von Science Fiction-Romanen.

*Zeile des Liedes „Das war schon immer so“ von Duo Camillo, bezieht sich auf die mühselige Arbeit des „Klavierschiebens“ in Kirchengemeinden. „Klavierschieben“ ist ein Synonym dafür, Veränderungen langsam und leise zu etablieren, also bildlich gesehen das Klavier nicht von einer Woche auf die andere im Altarraum auf die gegenüberliegende Seite zu bugsieren.

Ansage zum Schluss: Ich werde an dieser Stelle keine Diskussion zulassen um beschnittene Grundrechte, falsche Corona-Politik oder irgendwelche Verschwörungen! Deshalb behalte ich mir vor, Kommentare in dieser Richtung zu löschen. Es gibt unbestritten einiges, was in dem Bereich, der uns seit einem Jahr im Bann hält, schief gelaufen ist, mir geht es aber um gesellschaftliche Bereiche, die unser gemeinsames Leben außerhalb von Corona betreffen, und das schon lange und auch in Zukunft!

Ostern kommt näher…

…und ich habe mal ein paar Kleinigkeiten ausprobiert. Die Mug Rugs haben schon vor Weihnachten mit entsprechenden Motiven guten Absatz gefunden. Am besten gefallen mir die ganz kleinen Körbchen, da passen auch ein paar edle, frühlingsfrische Pralinen hinein (die man in der Buchhandlung, in der ich arbeite, in ein paar Tagen wieder kaufen kann🥰).

Wenn nur das händische Annähen der Knöpfe nicht so kniffelig wäre, meine rechte Hand hat da leider manchmal so ganz eigene Vorstellungen, was sie mit der Nähnadel anfangen will: wahlweise fallenlassen oder in meinen linken Daumen stechen… Naja, ein bisschen Verlust hat man immer.

Buchtipp: Robert Habeck, Von hier an anders – Eine politische Skizze

|Werbung, unbezahlt|

Das Buch ist eine Zumutung! Achtung: weiterlesen, keine Schnappatmung bitte. Eine Zu-Mut-Ung im besten Wortsinn. Er mutet und er traut seinen LeserInnen zu, sich Gedanken um unsere Gesellschaft zu machen, und zwar Gedanken, die nicht nur an der Oberfläche kratzen.

Und ehe möglicherweise einige hier abwinken, es lohnt sich nicht nur als Grünen-Wähler, dieses Buch zu lesen. Denn es bietet mehr als eine politische Vision, weil gerade in diesem Jahr Bundestagswahl ist. Ich empfinde es als ziemlich wohltuend, dass hier nicht in einer Art Haudrauf-Mentalität alles zerredet wird, was dazu geführt hat, dass wir als Land, als Gesellschaft, aber auch als Einzelpersonen, heute an dem Punkt stehen, an dem wir stehen. Das ist mir heute früh bewusst geworden, als ich die Kapitel „Das kulturelle Paradigma“ und „Wettstreit um Würde“ las. (Ihr seht, ich bin noch nicht ganz durch, aber ich muss das jetzt mal loswerden.)

Robert Habeck legt Finger in offene Wunden, aber er bleibt dabei nicht stehen, sondern er führt auch aus, wie die Entwicklungen in der deutschen Politik und Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg aussahen, die irgendwann (oft aus den besten Absichten unter den jeweiligen Voraussetzungen) zu diesen Wunden geführt haben. Dabei macht er vor einem gesellschaftlichen Rundumschlag nicht halt: Für Deutschland wichtige Wirtschaftszweige wie Landwirtschaft, Industrie und natürlich der gesamte Dienstleistungssektor mit seinen vielen prekären Beschäftigungsmodellen, Bildung, auskömmliches Leben, gesellschaftliche Teilhabe und Gerechtigkeit, er spart keinen Bereich aus, in dem es kriselt und wehtut.

Natürlich flicht er an der einen oder anderen Stelle Erfahrungen aus seinen früheren Ämtern in der Landesregierung Schleswig Holsteins ein und macht Werbung für die Grünen, aber er zieht an keiner Stelle über politische Mitbewerber her und andere als die eigenen Erfahrungen kann ja nun mal niemand von uns beschreiben. Insgesamt halte ich „Von nun an anders“ eher für ein philosophisches als ein politisches Buch. (Wobei für mich logischerweise beide Bereiche ineinandergreifen, schon allein von den Definitionen der Begriffe her. Es werden die zentralen Bedingungen unseres Lebens bedacht: Gemeinschaft und Sinn. Aber das kann ich euch ein anderes Mal erzählen.)

Ich könnte an dieser Stelle viele Zitate aus dem Buch anführen, die zeigen, dass die Überlegungen, die Habeck anstellt, für eine breite Öffentlichkeit interessante Denkanstöße darstellt, aber ganz ehrlich: Ich habe Probleme, hier eine Priorisierung durchzuführen, um DAS Zitat herauszustellen, das für mich die Essenz des Buches darstellt. Daher stelle ich euch eine wichtige Eingangsfrage, die er in dem Buch stellt, einfach mal weiter:

„Sind wir also tatsächlich politisch gefangen in einer Spirale aus Reaktion und Gegenreaktion? Kann es sein, dass man, je erfolgreicher man für sein Anliegen wirbt, je mehr Menschen einem zustimmen, desto stärker zum Teil einer falschen Polarisierung wird und Gefahr läuft, seinem Anliegen einen Bärendienst zu erweisen?“ (S. 21)

Es bleibt spannend.

Bibliografische Angaben: Robert Habeck, Von hier an anders, Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3-462-05219-0, € 22,00 (geb.) auch als eBook erhältlich

PS: Ich hatte die wilde Idee, in diesem (Wahl-)Jahr mal von jedem politischen Lager einen aktuellen Titel vorzustellen. Bisher bin ich nicht ganz glücklich mit diesem Einfall. Denn da sind mir als nächstes erstmal nur Friedrich Merz und Berndjörn Höcke eingefallen… Kommentar meiner Chefin: „Willst du dir das wirklich antun?“ Da wären wir dann wieder bei Zumutung. Der Kreis schließt sich. Also: Was meint ihr? Und habt ihr konkrete Wünsche oder Vorstellungen?

Kognitive Dissonanz

Definition laut Gablers Wirtschaftslexikon (hier der Link)

  1. Begriff: Kognitionen sind Erkenntnisse des Individuums über die Realität. Einzelne Kognitionen können in einer Beziehung zueinander stehen. Kognitive Dissonanz entsteht, wenn zwei zugleich bei einer Person bestehende Kognitionen einander widersprechen oder ausschließen. Das Erleben dieser Dissonanz führt zum Bestreben der Person, diesen Spannungszustand aufzuheben, indem eine Umgebung aufgesucht wird, in der sich die Dissonanz verringert oder selektiv Informationen gesucht werden, die die Dissonanz aufheben.
  2. Beispiel: Das Wissen über ein erhöhtes Krebsrisiko kann bei Rauchern kognitive Dissonanz hervorrufen, denn die positive Einstellung zum Rauchen steht im Widerspruch zu den unerwünschten Konsequenzen.
  3. Möglichkeiten der Dissonanzreduktion:
    (1) Vermeidung von kognitiver Dissonanz durch Nichtwahrnehmung oder Leugnen von Informationen;
    (2) Änderung von Einstellungen oder Verhalten (Verzicht auf das Rauchen, Abwerten der Glaubwürdigkeit medizinischer Forschungsergebnisse);
    (3) selektive Beschaffung und Interpretation dissonanzreduzierender Informationen (z.B. ein starker Raucher wurde 96 Jahre alt).
    […]

Warum mute ich euch so einen drögen Stoff zu? Weil wir alle immer mal wieder davon betroffen sind und ich in den letzten Monaten das Gefühl habe, dass diese Wahrnehmungslücken zu einer Art Volkskrankheit werden.

Vorweg: auch ich ärgere mich über handwerkliche Schludrigkeiten in der Art, dass zum Beispiel spätestens zwei Tage vor einer MPK die möglichen Ergebnisse derselben bereits in der vielfältigen Medienlandschaft ausgebreitet und diskutiert werden, ehe überhaupt etwas beschlossen ist. Ebenso, dass die Halbwertszeit der Einigung in den Konferenzen immer kürzer wird und Stunden später ein Bundesland nach dem anderen erklärt, was es denn alles anders macht als die anderen. Das Hauptproblem ist noch vor der Glaubwürdigkeit, die aufs Spiel gesetzt wird, aber vor allem die be…scheidene Kommunikation, die einfach nicht wahrhaftig wirken kann.

Die Frage ist nur, welche Schlüsse ich daraus ziehe. Ich kann mich natürlich in einen Schmollwinkel zurückziehen, nur noch News- und Infoportale aufsuchen, die mich in meiner Sicht bestätigen und mich in dem Unglück suhlen, dass um mich herum nur unfähige, korrupte und menschlich völlig verwahrloste Leute in Entscheidungspositionen sitzen.

Ich kann aber auch ganz anders an die Sache herangehen und mir überlegen, dass die überwiegende Zahl der PolitikerInnen, ÖkonomInnen und sonstigen EntscheiderInnen einfach nur versucht, ihren jeweiligen Job gut zu machen. Und dass sie dabei häufig nicht nur dem ganz normalen Risiko von Versuchungen und Fehleranfälligkeit ausgesetzt sind wie Otto und Luise Normalverbraucher, denen eben nicht mal im Gang ein Lobbyist mit schicken Vergünstigungen winkt. Ohne Frage gibt es Menschen, die ihre wichtigen Positionen missbräuchlich ausfüllen, aber die große Masse besteht nicht aus diesen, wir nehmen sie nur mehr wahr, weil sie in der Öffentlichkeit viel mehr Resonanz haben.

Wenn ich davon ausgehe, dass die Mehrheit der Menschen rein verstandesgemäß weiß, dass es so ist (sonst dürfte man keine Kopfschmerztabletten mehr einnehmen, kein Auto mehr fahren, keine Konsumgüter mehr einkaufen…), dann frage ich mich wirklich, warum wir uns von den Negativbeispielen oft so viel mehr beeinflussen lassen als von allem, was gut läuft.

Außer beim Klima, da sollten wir viel alarmierter sein, lassen uns aber nur zu gern von lobbygesteuerten Beschwichtigungen einlullen (klar, da geht es ja auch um Verhaltensänderungen bei uns selbst, nicht bei anderen).

Fun Fact und aktuelles Beispiel für kognitive Dissonanz: Im Vorfeld der Terra X-Folge vom 28. Februar machte das Team auf Instagram eine Umfrage zum Thema Biofleisch. Vorweg brachten sie die Info, dass der allergrößte Anteil des verkauften Fleisches in Deutschland (ich habe mir die genaue Zahl nicht gemerkt, es war aber jedenfalls über 80%), aus konventioneller Landwirtschaft und Haltungsform stammt. Dann wurden die Leser gefragt, was für Fleisch sie kaufen: 98% der Teilnehmer kaufen demnach Biofleisch. Daraus kann man zwei Schlüsse ziehen: Entweder nahmen kaum Käufer von Preiskampf-Fleisch an der Umfrage teil, oder die Antworten fielen anders aus als die Kaufentscheidungen. Vermutlich von beidem etwas. Ich ziehe es zum Beispiel auch vor, Fleisch aus artgerechter Haltung zu kaufen, fahre dafür auch neuerdings zu einem Hof, auf dem Mutterkuhhaltung, und zwar meist auf der Weide, betrieben wird und kaufe dort ein Sechzehntel Rind plus Knochen für Suppe und die Hunde. Eingefroren reicht das dann für mindestens ein halbes Jahr. Aber für das bisschen Aufschnitt, das wir in der Familie mit zwei fleischessenden Personen benötigen, lohnt es sich meist nicht, ihn in so großen Mengen zu kaufen, dass sich die Fahrt zum Hofladen rentiert, denn der ist nicht um die Ecke.

Auch ich bin also, wenn ich eine solche Umfrage beantworten will, in einer Zwickmühle: Antworte ich realistisch oder idealistisch? Oder liegt das Problem darin, dass die Umfrage nur ein „entweder-oder“ zulässt und kein „sowohl-als auch“?

Im Endeffekt bin ich jedenfalls dafür, nicht nur andere, sondern auch sich selbst immer mal wieder zu hinterfragen. Nicht mit einem inneren Tribunal, sondern mit Ruhe und einer gewissen Demut.

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