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Inspiriert wurde Regine Kölpin von der eigenen Familiengeschichte, herausgekommen ist eine Erzählung, die sich über drei Romane erstreckt. Dieser ist der erste davon.
Aus Stettin mussten die Familien von Frida und Erna fliehen. Was sich nach einer gemeinsamen Erfahrung anhört, könnte verschiedener nicht sein. Denn Frida ist die musisch sehr begabte Tochter eines Fischers, die nur aufgrund ihres außergewöhnlichen Talents das Konservatorium besuchen durfte. Während die musikalische Ausbildung von Erna eher dem Standesdünkel ihrer adligen Eltern als einer Begabung zu verdanken war. Die beiden Mädchen und ihre Familien lernten sich so kennen, und während die Erwachsenen auf ihren Platz in der Gesellschaft bedacht waren, begann eine innige Freundschaft der jungen Frauen, die zwischen Flucht und ungewisser Zukunft auch noch ihr Erwachsenwerden meistern mussten.
Beide Familien verschlug es auf unterschiedlichen Wegen an die Nordsee, in die Gegend von Butjadingen. Die einen als Gelegenheitsarbeiter in einen winzigen Küstenort, die anderen aufgrund von (nicht ganz astreinen) Beziehungen in eine verlassene Villa in Varel. Der Vater von Frida besaß den Stolz der kleinen und rechtschaffenen Leute und mühte sich um einen Neuanfang aus eigener Kraft; der von Erna dagegen, der in der NS-Zeit gute Kontakte zu den führenden Leuten besaß, schaffte es aufgrund der auch nach dem Krieg noch aktiven Netzwerke, wirtschaftlich und gesellschaftlich auf die Füße zu kommen.
Im Vordergrund steht aber die Freundschaft der Mädchen, die trotz aller Widrigkeiten fester als je zuvor hält und den beiden auch die notwendige Kraft gibt, ihre Schicksale anzunehmen und nach vorne zu sehen.
Ursprünglich hatte ich nur vor, das Buch quer zu lesen, denn es ist nicht der erste Roman in diesem Jahr, der sich mit der Thematik beschäftigt. Aber es ist einfach wunderschön geschrieben und die Geschichte hat mich in ihren Bann gezogen. Die Aufarbeitung der Nachkriegszeit ist eindeutig ein Trendthema, möglicherweise hat uns die ausgangsbeschränkte Coronapandemie zum Nachdenken gebracht, wir hatten mehr Muße, uns damit auseinanderzusetzen, fühlten uns vielleicht auch ähnlich wie unsere Eltern damals in einer Situation ohne Ausweg gefangen. Wir wollten wissen, wie man solche Zeiten meistern kann, und es fiel uns auf, wie wenig wir doch im Grunde darüber wussten. Weil unsere Eltern teilweise relativ wenig konkretes erzählten. Weil „meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich“ ihr Mantra war, um ihre eigenen Traumata zu bewältigen. Jedenfalls geht es mir so.
Es gibt Episoden aus meiner Familiengeschichte, die ich recht gut kenne, aber auch solche, wo ich mir erst in den letzten Jahren Fragen stelle, wie sich meine Eltern damals verhielten und positionierten. Ich muss dazu sagen, dass ich ein spätes Kind „alter Eltern“ war, mein Vater war noch als junger Mann Soldat an der Ostfront, meine Mutter musste zwangsweise zum BdM, obwohl (oder gerade weil) ihr Vater überzeugter Gewerkschafter und SPD-Mitglied war. Da meine Eltern beide nicht mehr leben und auch meine Tanten und Onkel alle verstorben sind, werde ich meine Fragen nicht mehr beantwortet bekommen. Umso berührender fand ich die Geschichte, die Regine Kölpin auf der Grundlage der eigenen Familienvergangenheit geflochten hat.
Ich werde in jedem Fall auch die beiden Folgebände lesen.
Bibliographische Angaben: Regine Kölpin, Das Haus am Deich – Fremde Ufer, Piper Taschenbuchverlag, ISBN 978-3-492-31736-8, € 11,-