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Nein, nicht was ihr jetzt vermutlich denkt. Ich bin nämlich heute ein wenig dystopisch unterwegs. Denn während ich morgens mein Kardiotraining auf dem Fahrradergometer abspule, lese ich gern. Und zwar Sachen, die mein Hirn ebenso in Wallung bringen wie das Strampeln den Kreislauf.

Meine heutige Lektüre war ein Abschnitt aus dem Buch „Denkt mit! – Wie uns Wissenschaft in Krisenzeiten helfen kann“ von Harald Lesch und Klaus Kamphausen. Zunächst einmal stelle ich anhand einiger Absätze einfach mal nur in den Raum, dass in der Jetzt-Zeit ein enormer Wissensschatz und Erfahrungsschatz uns als Menschheit zur Verfügung steht, alles, was unsere Vorfahren durch Jahrtausende der Naturbeobachtung vermutet und im besten Fall irgendwann bestätigt gefunden haben. Das geozentrische Weltbild wurde abgelöst durch das heliozentrische, die Entwicklung der Atommodelle seit der Antike (!) von Demokrit über Niels Bohr bis hin zum aktuell gültigen von James Chadwick stellt eigentlich niemand so recht in Frage. Die Halbwertszeit des Wissens nimmt beständig ab. Obwohl die Wenigsten von uns genau erklären können, wie ein Auto oder ein PC funktioniert, benutzen wir sie einfach. Ist ja auch so bequem…

Aber in den letzten Jahren findet ganz schleichend eine Trendumkehr statt: Statt Erkenntnis rücken die drei Ws an die erste Stelle: Wahrnehmen, Wohlfühlen, Wirklichkeit einschränken. Unsere eigene Befindlichkeit ist uns wichtiger als ein großes Ganzes. Das beginnt weder und endet auch nicht mit der Eigenwahrnehmung von Donald Trump („Ich fühle mich wie ein Wahlsieger, also bin ich es, egal, was die reinen Zahlen sagen!“)

Ich sage übrigens ganz bewusst „Wir“ und „Uns“, weil sich niemand davon ausnehmen kann. Die Schwerpunkte liegen für jeden an anderen Stellen, aber an irgendeiner Stelle denken und handeln wir alle so, das ist einfach grundmenschlich. Ich finde es nur langsam bedrohlich, dass es zunehmend schwieriger wird, eine übergreifende, inklusive Grundlage zu finden, auf die sich Gesellschaften verständigen können.

Ich selbst bemerke das übrigens nicht nur in Bezug auf die Pandemie oder das noch viel größere Übel, das wir seit mindestens einem halben Jahrhundert erfolgreich prokrastinieren: Die Klimakrise. Ich merke es auch an anderen gesellschaftlichen Phänomenen, im Augenblick ganz heftig an der Entwicklung der Kirchen. Ganz deutlich: Was zurzeit an Missbrauch, Fehlverhalten und anderem Mist vor allem in der katholischen Kirche mehr und mehr ans Licht kommt und immer größere Dimensionen annimmt, ist durch nichts schönzureden. In einer Institution, der die Menschen so vertraut haben, dass sie anständig handelt, weil es in ihrer DNA liegt, darf es nicht hingenommen werden, dass sich dort genauso ein krimineller und missbräuchlicher Bodensatz bildet wie im Durchschnitt der Bevölkerung.

Jetzt kommt das große Aber! Was ich sehr bedenklich finde: Die Menschen stimmen mit den Füßen ab. Sie wenden sich ab, weil sie sich nicht mehr wohlfühlen. Obwohl es auf einer persönlichen Ebene, gerade bei Betroffenen, absolut nachvollziehbar ist, ist es meiner Meinung nach für die Meisten nicht der richtige Weg. Aus anderen, viel harmloseren Gründen habe ich mit meiner Gemeinde und meiner Kirche auch schon des Öfteren gehadert, bis hin zum „Ihr könnt mich ja alle mal an den Füßen lecken“, aber ich bin immer noch dabei, reibe mich zeitweise, aber bleibe im Dialog und versuche, meine Argumente unterzubringen. Es ist mitunter schwierig, aber ich bin davon überzeugt, wenn jeder nur mosert und sich abwendet, ist der Veränderungsdruck nicht groß genug.

Freikirchen, und auffälligerweise häufig solche großen, charismatischen Gemeinden, die in Predigten mit schlafwandlerischer Sicherheit und letzten Gewissheiten auftrumpfen, in denen man sich wohlfühlt, wahrgenommen fühlt, angenommen wähnt, die boomen. Ich erkenne auch neidlos an, dass es dort Persönlichkeiten gibt, die mitreißend reden, die Bilder im Kopf erzeugen, die mich „da abholen, wo ich gerade stehe“. Aber auch dort gibt es missbräuchliche Strukturen, und zwar auf der geistlichen Ebene. Das ist nicht weniger schlimm als körperlicher Missbrauch. Zum Glück ist es so, dass der allergrößte Anteil der freien Gemeinden eine sehr gute Arbeit leistet. Ich rege nur mal an: Wenn sich jemand zu einer Gemeinde hingezogen fühlt, wo kaum Zweifel eine Rolle spielen, wo es auf jede komplexe Frage eine einfache Antwort gibt, wo Wohlfühl-Events wichtiger sind als die kleine, alltägliche, oft mühselige Seelsorge, dann denkt darüber nach, ob es so einfach wirklich sein kann.

Um mal bei Gemeinde zu bleiben, aber auf der politischen Ebene, da sieht es ähnlich aus. Entscheidet ein Bürgermeister oder eine Landrätin nicht im Sinn von Teilen der Bürgerschaft, gibt es Shitstorms, in den Kommentarspalten der örtlichen Tageszeitung, in den sozialen Medien sowieso. Und je weiter die politische Einheit gefasst ist, Landkreis, Bundesland, bundesweit, desto weiter die Wellen. Ungeachtet davon, dass die meisten PolitikerInnen einfach bemüht sind, möglichst gut ihre Arbeit zu machen und möglichst unterschiedliche Teile der Bevölkerung ordentlich zu vertreten.

Ähnliches gilt auch für die Medienlandschaft. Ich glaube, ich muss das nicht weiter ausführen. In immer mehr Lebensbereichen ist es für eine steigende Zahl der Menschen nur noch wichtig, was sie selbst fühlen, was ihnen bequem oder unbequem ist. Die Frage nach dem (persönlichen) Nutzen stellt vieles andere in den Schatten. Sicher auch eine Folge der Konsumgesellschaft, des ungebremsten Kapitalismus. Und statt kritisches Denken konstruktiv einzusetzen, zieht man sich ins Private, in den eigenen Kokon zurück (oder macht halt Fundamentalopposition).

Wir benutzen ganz selbstverständlich Dinge, deren Funktionsweise wir nicht verstehen. Oder wer weiß im Detail, wie genau Funkwellen es möglich machen, dass wir über Kontinente hinweg Familienangehörigen in den USA oder Australien Fotos schicken können? Aber die wunderbare Welt, in der wir leben, nehmen wir als „Um“-Welt wahr, also als Kulisse, nicht als „Mit“-Welt, in der alles um uns herum genauso eine Existenzberechtigung hat wie wir.

Wir stellen nicht in Frage, dass bei Olympia 17 Hundertstel Sekunden über Gold oder Blech entscheiden. Mit bloßem Auge und gedacht auf parallelen Bahnen, könnten wir diesen Unterschied überhaupt nicht wahrnehmen. Und wir strampeln uns ab, um unseren Kindern materielle Werte zu hinterlassen.

Aber wenn es darum geht, ein paar Jahre in die Zukunft zu denken und unseren Enkeln eine lebenswerte Welt zu hinterlassen, dann scheitern wir grandios. Weil wir es uns nicht vorstellen können, oder noch schlimmer, weil es uns einen feuchten Kehricht interessiert.

Ende der Durchsage, ich habe fertig. Danke an alle, die bis hierhin durchgehalten haben, auch wenn es vielleicht ein bisschen wirrer Rundumschlag ist.

PS: Ich stelle gerade fest, dies ist der 500. Beitrag auf diesem Blog. Punktlandung?

Autor: Annuschka

Ostwestfälisch beharrlich, meistens gut gelaunt, Buchhändlerin, Ehefrau, Mutter von drei tollen Töchtern, Hundemama, Jugendarbeiterin (in zeitlicher Reihenfolge des Auftretens). Mit vielen Interessen gesegnet oder geschlagen, je nach Sichtweise ;-)

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