Wir Menschen sind ganz allgemein gesprochen sehr widersprüchliche Wesen:
Geht es um materielle Güter, sind wir forschend und innovativ in die Zukunft orientiert, und kommt dann ein neues „Ding“ auf den Markt, wollen (fast) alle es möglichst schnell haben.
Geht es aber um „gefühlte Werte“ wie Tradition, Heimat oder ähnliches, dann sind wir ebenso schnell dabei, Vergangenes als den wünschenswerten Zustand zu glorifizieren.
Und leider passt diese Beobachtung zu ziemlich vielen Bereichen unseres Lebens.
WtF? Frage für eine Freundin…
Diese Notizen tippte ich heute früh ins Smartphone, während ich auf dem Fahrradergometer strampelte. Was war passiert, dass ich beim Training solche Gedanken wälzte? Nun, als der Wecker heute um halb Sechs losdudelte, war die erste Meldung, die mein erwachendes Ohr erreichte, der Einmarsch russischer Streitkräfte in die Ukraine. Und das nach einer Nacht, in der Kalle mich um drei Uhr geweckt hatte, weil er es nicht in Ordnung fand, dass die Citipost zugestellt wurde (vielleicht hielt er den Zusteller auch für einen Einbrecher, er konnte ja nicht durch die Flurtür gucken) und ich danach lange nicht wieder in den Schlaf fand.
Nachdem ich mich bei Kaffee und Haferflocken vom ersten Schreck des Tages einigermaßen erholt hatte, mein Training absolvierte und dabei ein weiteres Kapitel Harald Lesch („Denkt mit!“) las, ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass in puncto Klimakrise immer noch die Hoffnung geschürt wird, irgendjemand würde gerade im richtigen Moment noch eine technologische Mega-Erfindung machen, die dann ein echter Game-Changer würde.
Während „Zar“ Putin es begrüßenswert findet, die Ukraine wieder dem großrussischen Reich einzuverleiben. Da sollten sich die Kasachen, Usbeken und andere vielleicht schon mal warm anziehen? Der Blick in den historischen Weltatlas bestätigte mir, was eigentlich sowieso sonnenklar ist: Die allermeisten Gebiete auf der Welt gehörten mal hierhin, mal dorthin, wurden erobert, aufgegeben, neu erobert… Wenn jetzt einer meint, er müsse das Rad zurückdrehen, wo soll das ein Ende nehmen?
Das Drama ist ähnlich wie im nahen Osten: Auch wenn es außer Frage steht, dass von vielen Seiten noch mehr Fehler gemacht, viele Versprechen geleistet und gebrochen wurden, Gewissheiten kaputtgingen; es ist eine Situation, in der es keine richtige und keine falsche Seite gibt. Und es nützt einfach niemandem, wenn Schuldfragen hin und her geschoben werden.
Bemerkenswert, aber leider zu wenig beachtet fand ich die Rede von Martin Kimani, Botschafter Kenias bei den vereinten Nationen (obwohl und auch gerade weil es in Teilen Afrikas noch teilweise Utopie statt Realität ist, was er anmahnt):
„[…]Kenia und fast jedes afrikanische Land wurde durch das Ende eines Empire geboren. Unsere Grenzen zogen wir nicht selbst. Sie wurden in den fernen Kolonialmetropolen London, Paris und Lissabon gezogen, ohne Rücksicht auf die alten Nationen, die sie spalteten.
Heute leben über die Grenze jedes einzelnen afrikanischen Landes hinweg unsere Landsleute, mit denen wir tiefe historische, kulturelle und sprachliche Verbindungen teilen.
Hätten wir bei der Unabhängigkeit entschieden, Staaten auf der Grundlage ethnischer, rassischer oder religiöser Homogenität zu gründen, würden wir viele Jahrzehnte später immer noch blutige Kriege führen. Stattdessen einigten wir uns, die Grenzen so zu belassen, wie wir sie erbten – aber kontinentweite politische, ökonomische und rechtliche Integration zu verfolgen. Statt Nationen zu bilden, die rückwärts in die Geschichte blicken mit einer gefährlichen Nostalgie, entschieden wir uns für den Blick nach vorn in eine Größe, die keine unserer vielen Nationen und Völker je gekannt hat.
Wir entschieden uns, den Regeln der OAU und der Charta der Vereinten Nationen zu folgen, nicht weil wir mit unseren Grenzen zufrieden waren, sondern weil wir etwas Größeres wollten, das im Frieden entsteht.
Wir glauben, dass alle Staaten, die aus zusammengebrochenen und zurückgewichenen Empires entstehen, viele Völker in sich tragen, die sich nach Integration mit Völkern in Nachbarstaaten sehnen. Das ist normal und verständlich. Denn wer will nicht mit seinen Brüdern vereint werden und mit ihnen gemeinsame Ziele verwirklichen?
Doch Kenia lehnt es ab, eine solche Sehnsucht mit Gewalt zu verfolgen. Wir müssen unsere Heilung von der Asche toter Empires in einer Weise abschließen, die uns nicht in neue Formen von Herrschaft und Unterdrückung zurückwirft. Wir lehnten Irredentismus und Expansionismus ab, auf jeder Basis, auch rassisch, ethnisch, religiös oder kulturell. Wir lehnen es auch heute ab.[…]“ (Quelle: taz)
Manchmal wünsche ich mir einen Reset-Knopf, die Tastenkombination Strg-Alt-Entf oder zumindest eine Karte mit der Aufschrift >Gehen Sie zurück auf „Los“. Begeben Sie sich ohne Umweg dorthin!<
Vielen Dank für den Auszug aus der Rede von Kimani. Wo er Recht hat, hat er Recht.
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Find ich auch. Einfach pragmatisch.
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