Jeder Mensch hat (mindestens) eine Identität. Soweit, so eindeutig. Aber dann ist auch schon Schluss damit. Manche haben mehrere Identitäten, die mitunter sogar voneinander unabhängig agieren. Andere sind sich ihrer Identität aus unterschiedlichen Gründen nicht sicher. Das kann bedeuten, dass man mit seinen ganz persönlichen Defiziten nicht klarkommt, dass man aus irgendeinem Grund charakterlich eigentlich lieber anders sein möchte – und es kann auch bedeuten, dass man das Gefühl hat, im falschen Körper zu stecken.
Weil das anscheinend eine mengenmäßig geringe Anzahl von Menschen betrifft, empfinden andere es als „unnatürlich“, pathologisch, marginal oder sogar als einen Angriff auf das gesellschaftlich akzeptierte Durchschnittslebensmodell.
Ich kann nur und ausschließlich aus meiner eigenen Wahrnehmung feststellen, dass ich wenig Probleme mit meiner Identität habe. Ich fühle mich meistens so, wie ich bin: als weiße, mittelalte Frau der Mittelschicht, zugehörig der Mehrheitsgesellschaft in meinem Land und Kulturkreis. Ich bin einigermaßen komfortabel aufgewachsen, und auch wenn wir als Familie nie zu den Wohlhabenden gehörten, hat es mir doch eigentlich nie an dem gefehlt, was notwendig war, um anständig groß zu werden. Sowohl in meiner Kindheit als auch aktuell komme ich recht ordentlich über die Runden, gesundheitlich ist nicht alles tippitoppi, aber auch nicht über die Maßen viel kaputt.
Was zum Henker würde mir das Leben vermiesen, wenn andere Menschen dieses „Glück des Durchschnitts“ nicht haben? Was würde sich für mich ändern, wenn meinetwegen statt 10 Menschen auf einmal 100 oder auch 1000 Menschen sagen würden, dass sie sich nicht wohlfühlen mit ihrem vorgegebenen Geschlecht? Warum ist es gesellschaftlich eher anerkannt, sich aus miesen Verhältnissen hochzuarbeiten (oder hochzuschwindeln…) als zu versuchen, mit seiner eigenen geschlechtlichen Identität in Einklang zu leben?
Was berechtigt mich, die sich in ihrem Körper meistens relativ wohlfühlt, anderen abzusprechen, diesen Zustand zu erreichen?
Vieles hiervon sind rhetorische Fragen. Denn ich kenne viele Antworten, die oft reflexartig gegeben werden:
– Die Biologie sieht nun mal nur zwei Geschlechter vor – tut sie das wirklich? Immerhin gibt es ganze Spezies, die nicht so eindeutig festgelegt sind und manchmal sogar je nach Notwendigkeit ihr Geschlecht ändern können.
– Homosexualität ist ein menschliches Denkkonstrukt – nein, ist es nicht. Auch im Tierreich gibt es homosexuelle Beziehungen (oder, „noch schlimmer“: ein buntes Durcheinander, Sodom und Gomorrha in der Wildnis…)
– Gott will das nicht, das ist krank! Diese Phrase ist besonders perfide, denn sie spricht den Menschen, die betroffen sind, den „richtigen“ Glauben ab. Egal, in welchem religiösen Umfeld.
Diese Antworten spiegeln vor allem eines wieder: Ein Unbehagen, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die nur teilweise im Zusammenhang mit denen stehen, die nicht in eine gesellschaftliche Norm passen. Viel mehr liegen die Probleme häufig darin, dass man sich nicht mit Themen beschäftigen möchte, die man für sich selbst als irrelevant erkannt hat. Zunächst mal kann ich das sogar nachvollziehen, denn oft ist es einfach so, dass man mit eigenen Baustellen mental ausgelastet ist und sich nicht mehr mit dem beschäftigen kann oder will, was für andere essentiell wichtig ist. Ein Teil davon ist auch sicher Selbstschutz.
Der sich dann vielleicht auch in Bemerkungen in dieser Richtung äußert „Das sind alles Modeerscheinungen, das gab es früher auch nicht“. Gut und richtig ist das im Sinn der Mitmeschlichkeit trotzdem nicht.
Mit diesem Argument wird alle paar Jahre eine neue Sau (Entschuldigung, liebe Schweine) durchs Dorf getrieben, ob es Fibromyalgie, Depressionen, ADHS, Burnout, Autismus-Spektrum, Zwangsstörungen, Angsterkrankungen, Homsexualität, Transsexualität oder etwas anderes ist, das man nicht mit der Gerätemedizin in eine handfeste Diagnose packen kann.
Das alles gab es früher auch schon. Es wurde verschämt unter dem Tisch gehalten, darüber redete man nicht. Oder im schlimmsten Fall wurden Betroffene weggesperrt, von Oma und Opa „bewacht“ und in jedem Fall nicht „auf die Gesellschaft losgelassen“. Solche Verhältnisse sollten wir auf gar keinen Fall wieder herwünschen.
Denn auf der anderen Seite ist doch niemand von „Fehlern“, „Makeln“, „Tics“ … also mehr oder weniger liebenswerten Macken frei. Und jeder wünscht sich, akzeptiert oder zumindest respektiert zu werden, am liebsten natürlich mit allen seinen dazugehörigen Schwächen und Beeinträchtigungen. Damit impliziere ich nicht, dass es einfach ist, denn wir sind alle irgendwann mal sozialisiert worden. Viele von uns mit einem mehr oder weniger starren Gerüst, was sich „gehört“ und was nicht. Ich erkenne gern an, dass es nicht trivial ist, sich von solchen Vorstellungen zu lösen, aber ich wünsche mir viel mehr Bereitschaft, darüber nachzudenken und auch mal vorgefasste (Vor-)Urteile zu revidieren.
Sprung ins Haifischbecken in drei, zwei, eins …
Leben und leben lassen, das ist seit jeher meine Devise. Das gilt vor allem auch für Zwischenmenschliches. Wenn Personen sich mit ihrem Geschlecht nicht wohlfühlen und dem dringenden Bedürfnis nachkommen, dieses zu wechseln, dann ist das ihre Sache. Und da soll man ihnen weder in ihrem engeren oder weiteren Umfeld oder gar vom Staat aus Steine in den Weg legen, sondern unterstützen und Verständnis zeigen. Und wie viele Quellen mittlerweile berichten, haben ganz sicher nicht leichtfertig getroffene Entscheidungen, in das Geschlecht zu wechseln, in dem man sich eigentlich wohl fühlt, in der Regel sehr positive Auswirkungen auf die Betroffenen. Ob jemand sich männlich, weiblich, bi, tansgender, nicht binär etc. fühlt, nimmt doch mir oder meinem Leben und Wohlbefinden nichts weg!
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Eben, so ist es. Ich denke immer: es kann auch jederzeit im eigen familiären Umfeld so etwas auftauchen. Und ich müsste zum Beispiel auch erstmal ganz gewaltig schlucken und mich damit auseinandersetzen. Aber das kann und darf kein Grund sein, jemand anderem seine Motivation abzusprechen.
Natürlich gilt es auch umgekehrt, Betroffene müssen sich auch mit der „Gegenseite“ auseinandersetzen, ohne ausfallend zu werden.
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