Launisches Temperaturempfinden

Jedes Jahr beobachte ich es wieder: Wenn im Frühjahr die Tagestemperaturen auf 15 Grad ansteigen, sieht man auf einmal viel mehr T-Shirts, weniger Pullover. Übrigens schließe ich mich dabei durchaus ein. Die Freude über das nahende Ende der kalten Jahreszeit wärmt offensichtlich schon ein bisschen mit.

Jetzt gerade, im sehr heißen und trockenen Sommer, schließen wir tagsüber die Fenster und lassen nur morgens, in aller Herrgottsfrühe, die (hoffentlich unter 20 Grad) abgekühlte Nachtluft in unsere Häuser. Treten vielleicht um sechs Uhr aus der Haustür, recken und strecken uns und atmen tief durch. Kühle, mit etwas Glück sogar leicht feuchte Luft flutet unsere Lungen, wir genießen diesen Augenblick.

Im Herbst dagegen kramen viele ihre „Übergangsjacken“, Pullis und Schals schon bei ungefähr 18 bis 20 Grad heraus, je nach persönlicher Einstellung und Empfindung. Auch ich, vor allem, wenn die Optik des Wetters (Wind, graue Wolken…) dazu passt. Abends im Lesesessel gehört eine Decke über die Beine gelegt, so ist es doch gleich gemütlicher. Und der warme Kakao ersetzt das Kaltgetränk.

In den letzten Wochen hatte ich gefühlt den Eindruck, Supermärkte, Autos etc. würden per Klimaanlage auf Kühlschranktemperaturen (damit das Fleisch, auch das eigene lebendige, nicht verdirbt?) heruntergekühlt, aber wenn im Herbst das Beheizen von öffentlichen Gebäuden auf „nur noch“ 19 Grad erfolgen soll, dann gibt es einen Aufschrei, dass so etwas nicht zumutbar sei.

Ganz davon abgesehen, dass man in Schulen, Einzelhandelsgeschäften und Arztpraxen in den letzten zwei Wintern aus Infektionsschutzgründen durchaus zumutbar frieren „durfte“, sogar ohne eine Temperaturbegrenzung nach unten, dafür mit verordneten Öffnungsintervallen der Fenster.

Ebenfalls davon abgesehen, dass vermutlich schon viele Menschen, auch ich, die Erfahrung gemacht haben, es gibt kein schlechtes Wetter, sondern nur falsche Kleidung. Vorzugsweise im Urlaub, denn dieser teuer erkaufte Freiraum muss ausgenutzt werden, zur Not auch mit Mütze, Schal und Handschuhen, langer Unterwäsche und Regenoutfit.

Ganz klar, im Urlaub bewegen wir uns mehr. Und bei Sauwetter warm eingepackt über den Deich zu stapfen hat ja auch was. Man trotzt den lebensfeindlichen Elementen. Und hat die Aussicht auf eine dampfende Tasse Ostfriesentee mit Kluntje und Wölkje als Belohnung. Und Friesentorte. (Für alle, die lieber in die Berge fahren: Ich bin sicher, dort gibt es entsprechendes…)
Während wir zuhause oder im Büro oft einfach nur stundenlang vor einem Bildschirm hocken, ohne viel Bewegung.

Es gibt Menschen, kleine und große, denen Kälte tatsächlich nicht guttut. Babys, die ihre Körpertemperatur noch nicht gut regulieren können. Kranke Menschen, die zum Beispiel mit rheumatischen Beschwerden zu kämpfen haben. Körperbehinderte, die nicht einfach mal so aufspringen und zehn Kniebeugen machen können. Und zig andere. Ich kann das nachvollziehen und finde es auch nicht gut, wenn wir diesen Menschen vorschreiben, wie sie im Winter zu heizen haben, um es in ihren Wohnungen angenehm auszuhalten.

Was aber auf jeden Fall von (fast) jedem machbar ist: Sich aktiv mit seinen Angewohnheiten auseinanderzusetzen. Zu überlegen, ob und wo es Stellschrauben gibt, an denen wir uns angemessener verhalten können. Denn vieles von dem, was wir als ganz normalen Komfort um uns haben, ist nicht notwendig, sondern anerzogen, wir werden mit jeder Generation softer sozialisiert. Denn wenn wir ganz ehrlich sind, wären wir als Menschheit ansonsten schon vor unzähligen Generationen ausgestorben, hätten uns als überlebensunfähig erwiesen.

Es ist eben so ein bisschen wie mit der Wirtschaft: solange die Kurve immer nach oben geht, ist gefühlt alles in Ordnung. Sobald sie aber eher nach unten schwenkt, haben wir (immer noch wie Kleinkinder) sofort ein diffuses Verlustgefühl, das uns zunächst nur Unbehagen verursacht und sich bei anhaltendem Abwärtstrend bis zur Revolte steigern kann. Da hilft dann auch der Verstand, der das Ganze einordnen möchte, nur begrenzt weiter.

Menschlich? Ja, vermutlich. Wenn wir nicht immer nach Verbesserung streben würden, gäbe es keinen Fortschritt. Aber dann sollten wir eventuell mal neu definieren, was „Verbesserung“ eigentlich wirklich ist.

Autor: Annuschka

Ostwestfälisch beharrlich, meistens gut gelaunt, Buchhändlerin, Ehefrau, Mutter von drei tollen Töchtern, Hundemama, Jugendarbeiterin (in zeitlicher Reihenfolge des Auftretens). Mit vielen Interessen gesegnet oder geschlagen, je nach Sichtweise ;-)

4 Kommentare zu „Launisches Temperaturempfinden“

  1. Ja wenn es denn immer ‚Verbesserung‘ wäre … oftmals ist es einfach ‚Vermehrung‘ oder ‚Altes in neuem Gewand‘.

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    1. Genau so ist es. Olympisches Prinzip ist ja auch schon lange nicht mehr „Dabei sein ist alles“, sondern „Höher, weiter, schneller!“
      Dabei muss es doch ganz glasklar sein, dass es so nicht weitergehen kann.

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  2. Gut beobachtet und treffend beschrieben. Mir fällt dazu ein, dass wir die deutschen Touristen an unseren oberitalienischen Seen immer daran erkennen, dass sie bei knapp zwanzig Grad an Ostern in kurzen Hosen und Badelatschen herumschlappen, weil sie ja nun mal Urlaub im Süden machen. Im August, wenn wir oft in Deutschland sind, und tapfer in unseren Sommerkleidchen gehen, auch wenn die Temperaturen mal etwas sinken, sehen wir die Deutschen (Touristen), die immer sofort von einem Tag auf den anderen die wärmenden Outdoorklamotten dabeihaben und sich auch nicht scheuen, mal eine Mütze aufzusetzen. Gerade so erlebt bei zwanzig Grad in Dresden.
    Aber Spaß beiseite. Es ist schon wahr, wir sind alle recht verpimpelt und verwöhnt, auch was das Heizen angeht. Ich weiß noch, wie ich in den Neunziger Jahren mal dienstlich in einem Luxushotel nächtigen durfte und dort die Fußbodenheizung affig fand. Jetzt haben wir sie daheim und wir müssen dickere Socken anziehen diesen Winter, wenn wir sparen wollen und müssen. Das sollte kein Problem sein! Und meine selbstgestrickten Pullover kommen auch endlich zu Ehren. Liebe Grüße Anke

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