
Nachdem wir als Menschheit im Großen und Ganzen ein paar Jahrzehnte des „Aufwärts“ hinter uns haben und in den letzten Jahren immer öfter erfahren mussten, dass es so nicht immer weiter gehen kann, erleben wir derzeit nicht nur Aufbruchsstimmung, das Gefühl, etwas ganz Neues („Unerhörtes“ im reinen Wortsinn) müsse jetzt kommen.
Bedauerlicherweise passiert in dieser Hinsicht tatsächlich eine Spaltung, und zwar global gesehen. Während viele junge und einige ältere Menschen darauf drängen, die Transformation der Gesellschaften hin zu nachhaltigerem Leben voranzutreiben, machen andere genau das Gegenteil: Sie wünschen sich autoritäre Obrigkeiten zurück, die den von ihnen regierten Bevölkerungen klare Kante geben. Und zwar in einer rückwärtsgewandten Art und Weise, in der sie an der Überzeugung festhalten, was vor über einem halben Jahrhundert gut war, muss auch heute gut sein. Rückbesinnung auf nationale Werte, auf anscheinend festgefügte und bestens erprobte Gesellschaftsmodelle.
Gerade in alternden Gesellschaften, wo ein überdimensional großes gemeinsames Erinnerungsnarrativ von den „guten alten Zeiten“ erzählt, ist dieses Problem vorhanden, in vielen mitteleuropäischen Ländern; aber auch da, wo überwiegend junge Gesellschaften nach mehr Wohlstand suchen für breite Gesellschaftsschichten, greifen diese Erzählungen – denn nach dem zweiten Weltkrieg hat es ja auch scheinbar funktioniert.
Das große Problem bei der Sache, der rosa Elefant im Raum, den niemand benennt: Die Welt ist nicht mehr in den 1950er Jahren. Vieles, was damals bahnbrechend, revolutionär und zukunftsträchtig erschien, hat inzwischen die hässliche Fratze seiner Nebenwirkungen gezeigt. Nebenwirkungen wie Insektensterben, Versiegelung von Lebensräumen, Ölpest, Mikroplastikansammlungen in Kontinentgröße. Die Game Changer von damals haben sich bewahrheitet, doch die Veränderungen gehen oft in die entgegengesetzte Richtung, für die sie einmal gedacht waren. Gut gedacht, aber schlecht gemacht. Das Perfekte ist der Feind des Guten. Und wir maßen uns zu häufig an, perfekt sein zu wollen. Weil Durchschnitt schon unterdurchschnittlich bewertet wird. Und weil wir in „-Ismen“ gefangen sind.
Eine echte Renaissance wäre es, sich auf Forschergeist und die radikale Lust am Neuen und Unbekannten zu besinnen. Denn zur Zeit der ersten Renaissance gab es zwar auch eine Rückbesinnung auf antike Werte, aber sie löste ein neues Denken aus. Man führte die Gedanken und Ideen der antiken Philosophen weiter, und dieses Weiterdenken und Neudenken führte zu revolutionären Neuerfindungen und -entwicklungen: Buchdruck, Reformation, humanistisches Denken…
Dinge, ohne die sich das 21. Jahrhundert kaum noch denken lässt.
Das sind Gedanken, die mir bei meiner aktuellen Lektüre durch den Kopf gehen. Gedanken, die mich schaudern lassen, die Fragen mit sich bringen:
– Haben wir keine neuen Erzählungen mehr, die uns freudig gespannt in die Zukunft blicken lassen?
– Sind wir so degeneriert oder ausgeleiert in unserem Denken, dass wir nur noch rückwärts schauen können?
– Warum ist uns die Innovations- und Gestaltungskraft abhanden gekommen, Dinge wirklich NEU zu denken und nicht nur in Abwandlungen und Dauerschleifen von „Das hatten wir schon mal, das können wir nochmal versuchen“? Und wo ist sie hin?
Aber ich habe auch Hoffnung. Hoffnung, dass sich die kleine und begrenzte Kraft von Vielen aufsummiert zu einer großen Kraft und Willensanstrengung. Zu einer Einsicht, dass Leben nur mit der ganzen Bandbreite von Natur, Schöpfung, Umwelt oder wie man es nennt funktioniert und gelingt, nicht dagegen.
Hoffnung, dass Jules Verne und andere „Phantasten“ mit ihren Visionen und Utopien nicht nur Weltliteratur, sondern auch Wirklichkeit geschaffen haben. Dass neue Erzählungen die alten ablösen werden. Erzählungen, die wirkmächtig genug sind, neue Realitäten zu schaffen.
Und mit diesem Teaser lasse ich euch in die neue Woche. Demnächst schreibe ich hier darüber, welches Buch so vielfältige und widerstrebende Gedanken in mir auslöst.
interessant ist ja , dass diese Narrative auch schon 1950 bedient wurden. Immer wenn die Zeiten schwieriger werden, tauchen diese Erzählungen auf Verschwörungen, Demokratie die keine ist, benutzt werden , Opfer sein und immer wird es verbunden mit : hin zur Scholle, Abgrenzung. Der grosse Agitaor, so nennt es Adorno: sammelt die Opfer ein und bringt sie nicht dazu selbst zu denken sondern gibt ihnen einen Weg vor. Lese gerade Studien zum autoritären Charakter von Adorno. Hochspannend
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So ist es. Und jedes Mal wieder fallen die Leute darauf rein und sind auch noch überzeugt davon, den einzig wahren Durchblick zu haben.
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Und ich finde die junge Generation großartg. Die stehen auf und krempeln die Ärmel hoch, die werden laut und sind manchmal radikal in ihrem Lebenstil. Nur noch Hafermilch und secondhandkleidung, kein Fliegen- ich kann dem wirklich etwas abgewinnen.
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Viele aus unserer Generation vergessen, dass wir früher auch in manchem radikal waren.
Second Hand kaufen wir alle gern, wobei ich es schwieriger finde, ordentliche Männerkleidung zu finden. Und unsere Jüngste bedient sich am allerliebsten bei ihrem Papa am Kleiderschrank. Karierte Flanellhemden mit abgescheuertem Kragen werden von ihr noch getragen, bis sie fadenscheinig sind und fast in Fetzen an ihr runterhängen.
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