Ich lese gerade als Rezensionsexemplar das Buch Demokratie als Zumutung, werde es auch später noch hier vorstellen. Aber es ist kein Buch, das man mal eben durchhecheln kann. Eher im Gegenteil, alle paar Absätze stoße ich auf Denkansätze, die mir neu oder zumindest nicht bewusst waren. Nicht verwunderlich, denn wenn man in ein Land, ein System hineingeboren wird, macht man sich recht wenig Gedanken darüber, man kennt es von klein auf und wächst intuitiv in die Abläufe und Werte hinein.
Ein bisschen ist es wohl wie in einer Beziehung: solange alles läuft, man sich prinzipiell einig ist, kann man mit den Macken des Partners gut umgehen. Passiert aber etwas, was dieses Grundgerüst stört, findet man auch andere Gewohnheiten, die plötzlich nicht mehr akzeptabel erscheinen (obwohl es sie schon lange gab) und dann muss man sich entscheiden, entweder an der ganzen Sache zu arbeiten oder sich zu verabschieden.
Genau so etwas ist (nicht nur) in Deutschland passiert. Corona, der Klimawandel und jetzt auch noch der Krieg in der Ukraine haben uns mit Wucht offenbart, dass wir doch nicht so in Einigkeit leben, wie es unsere Nationalhymne gerne hätte. Tendenzen, die es während der Finanzkrise und der Flüchtlingswelle schon gab, konnten noch übertüncht werden, aber irgendwann kam für viele ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Und hier kommt jetzt ein Gedanke des Autors zum Tragen, der bei näherer Überlegung geeignet ist, den Druck aus dem Kessel zu nehmen:
Nun könnte man einwenden, dieses Misstrauen gegenüber dem Staat und der Politik sei gerade ein Zeichen für eine »gesunde« Demokratie. Sind nicht die Möglichkeiten, gegen staatliches Handeln Einspruch zu erheben, eine zentrale Errungenschaft der Demokratie? Gegen jeden Verwaltungsbescheid kann man sich gerichtlich wehren. Und die Glaskuppel des Reichstagsgebäudes soll ja nicht nur dem interessierten, sondern durchaus auch dem misstrauisch-kontrollierenden Blick des Wahlvolkes die freie Sicht auf das Parlament ermöglichen.
Der französische Ideenhistoriker Pierre Rosanvallon nennt diese Mechanismen der Kontrolle und des Einspruchs durch die Bürgerinnen und Bürger die »Gegen-Demokratie«. Jede kollektiv bindende Entscheidung, so seine These, kann wieder durch andere Mechanismen in Frage gestellt werden, durch Gerichte, Petitionen, den Gang zum EUGH. Demokratie und Gegen-Demokratie gehören immer zusammen.
Und in der Tat scheint es wichtig, als Gegenbegriff einer grundlegenden Entfremdung nicht so etwas wie Einklang zu imaginieren: Dass Bürgerinnen und Bürger einerseits und politische Eliten und staatliche Institutionen sich immer auch fremd sind, ist eher ein Zeichen für eine produktive Spannung. Denn ein vollends, ein ganz und gar zufriedenes »Volk« gibt es nur in Autokratien oder Diktaturen. Die Nationalsozialisten plakatierten Hitler-Bilder mit der Unterzeile »Denn Du bist Deutschland.« Eine (ja immer nur imaginierte) Identität von Regierenden und Regierten ist zweifelsohne brandgefährlich. Denn wo es Identität gibt oder diese behauptet wird, entfällt die Vermittlung. Dort kann es keine produktive Spannung mehr geben und daher auch keine Fortentwicklung von Argumenten oder Politikansätzen.
Überall dort, wo populistische Bewegungen behaupten, der leader sei ganz und gar »einer von uns«, ein Mann oder eine Frau »aus dem Volk«, sollte man hellhörig werden.
Eine Spannung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten ist also nicht nur erwartbar, sondern sie kann auch produktiv sein. Der Politikwissenschaftler Winfried Thaa spricht in einem sehr einflussreichen Aufsatz von »Differenzrepräsentation«: Es sind gerade die Spannungen, die produktiv sein können, so Thaa. Die populistische Erwartung einer Identität zwischen dem ›authentischen‹ Volk einerseits und den Eliten macht im Umkehrschluss deutlich, worin repräsentative Demokratie auch besteht: aus der Repräsentation von Differenzen.
Der Satz »Ich fühle mich durch die da oben nicht repräsentiert!« wäre aus dieser Sicht zu hinterfragen. Erstens sind Parlamente und Regierungen nicht dazu da, Individuen zu repräsentieren, sondern um eine Vorstellung des Gemeinwohls zu formulieren. Zweitens wäre schon die Erwartung an eine Identität naiv: Entfremdung oder zumindest eine gewisse Fremdheit zwischen Repräsentierten und Repräsentanten besteht nicht nur aus logischen Gründen, sondern ist – in einem gewissen Maße – normativ als Voraussetzung für produktive Spannungen durchaus begrüßenswert.
Felix Heidenreich, Demokratie als Zumutung (Klett-Cotta)
Ein wichtiger Aspekt scheint mir zu sein, dass wir in grundsätzlichen Diskussionspunkten nicht mehr gewohnt sind, uns mit Argumenten anderer, vor allem Andersdenkender, auseinanderzusetzen. Das merke ich auch an mir selbst, obwohl ich es grundsätzlich versuche, mir unterschiedliche Blickpunkte anzusehen. Das ist ein Problem, das uns die Algorithmen des WWW bescheren. Es ist halt nicht nur so, dass uns aufgrund unserer Onlinebestellungen bestimmte Waren angeboten werden, sondern auch Meinungen anhand unseres Such- und Leseverhaltens in den Browser geschwemmt werden. Dass dieses sehr vielen Leuten überhaupt nicht bewusst ist, merkt man an der inflationär gebrauchten Aufforderung: „Googel doch selbst, dann siehst du es!“ Nein, sehe ich nicht. Denn ich suche meist ganz andere Sachen, da bekomme ich dann auch andere Vorschläge. Die Suchmaschinen sind nicht objektiv, sondern responsiv.
Wie auch immer, ich weiß noch nicht, wie es im Buch weitergeht. Ob diese These wiederum auf den Prüfstand gestellt und vielleicht sogar verworfen wird. Ich bin gespannt. Aber als ich den zitierten Absatz heute früh quasi als Nachtisch zum Frühstück las, empfand ich die Sichtweise als entlastend. Und das wollte ich unbedingt mit euch teilen.