
Ab sofort kann man das heißersehnte Deutschlandticket erwerben. Bevorzugt (und dauerhaft irgendwann ausschließlich) allerdings digital (in einer Übergangszeit bekommt man es per Mail und darf es ausdrucken, also halbdigital), was langfristig die Menschen ausschließen wird, die kein Smartphone besitzen. Wenn es dabei bleibt. Egal, ob man also freiwillig (auch das gibt es immer noch), wegen prekärer finanzieller Situation oder aus elterlicher Einsichtslosigkeit, dass man mit X (hier beliebige Zahl zwischen 6 und 18 einsetzen😂) Jahren „so etwas“ noch nicht benötigt, auf die moderne Technologie verzichtet. Das ist schon mal der erste Stolperstein. Obwohl, vielleicht in ein paar Jahren nicht mehr, ich bin mir dabei nicht ganz sicher. Menschen sind so unberechenbar.
Dann muss man ein Abo abschließen. Das ist zwar sehr großzügig monatlich kündbar, aber ich vermute, es wird heimlich darauf spekuliert, dass man diese Kündigung ganz gern mal prokrastiniert, also bis zum Sankt Nimmerleinstag aufschiebt. Ich wurde vor ein paar Tagen darauf aufmerksam gemacht, dass durch dieses Modell ein großes Problem für Menschen mit negativer Schufa-Auskunft entstehen könnte. Denn gerade diesen Leuten, denen eine zuverlässige und preisgünstige Versorgung mit ÖPNV sehr helfen könnte, ihren Alltag zu bewältigen, könnte zumindest in einigen Bundesländern durch den Eintrag der Zugang verwehrt bleiben. Da das Ticket personalisiert wird, kann ich zurzeit nicht beurteilen, ob es die Möglichkeit gibt, es durch Angehörige oder Freunde zu bestellen.
Das dritte Manko liegt ausnahmsweise nicht in dem Bereich, auf den die Entwickler des Tickets Einfluss haben: wo sollen Busse, Bahnen und Fahrer herkommen? Bei uns in der Gegend gilt schon seit über einem Vierteljahr ein Notfahrplan für den Busverkehr, es fährt nur jeder zweite Bus der wichtigsten Linien. In anderen OWL-Bereichen schlagen die Busunternehmen inzwischen den Schulen vor, den Schulbeginn zeitlich zu staffeln, da sonst auf absehbare Zeit der Schülertransport crashen könnte. Die Bahnunternehmen klagen über Personalmangel. Bei der „Hardware“ (Busse, Züge, Stellwerke, Weichen …) sieht es auch nicht rosig aus.
Damit wir uns richtig verstehen, ich wünsche dem Ticket vollen Erfolg, aber bin momentan unsicher, ob das nicht ein vergifteter Wunsch ist.
Augenblicklich und bereits seit einigen Wochen grübele ich darüber, ob es sinnvoll sein könnte, meinen kleinen Cityflitzer zu verkaufen und es mit einem Auto zu schaffen. Ganz rational gesehen dürfte das eigentlich kein Problem darstellen. Aber die Fahrplanunsicherheiten, die Tatsache, dass nicht alle notwendigen Ärzte und anderen Einrichtungen, die man dann und wann benötigt, zu jeder Zeit und jedem Termin auch öffentlich erreichbar sind (wenn überhaupt), die sind nicht trivial. Meinen Rheumatologen zu erreichen, ist für mich mit dem Bus eine halbe Weltreise und dauert auch fast so lange. Das ginge mit Hängen und Würgen und nur an Tagen, an denen ich nicht arbeite. Die Therapeutin unserer Tochter ist für sie nach dem Ende des Schultages mit ÖPNV außerhalb jeglichem Rahmen. (Das spricht eindeutig dafür, Arztpraxen und Therapieeinrichtungen bevorzugt in gut erreichbaren Innenstädten anzusiedeln.) Und was ist, wenn sich nicht vermeiden lässt, dass zwei Familienmitglieder fast zeitgleich in unterschiedliche Richtungen müssen? Fragen über Fragen, die wie ein Berg vor mir stehen. Dabei könnte ich mit dem Ticket ungefähr die Hälfte meines jährlichen Mobilitätsbudgets einsparen, das ich für das Auto brauche.
Ich müsste nur bei jedem Arzttermin, den ich abmache, vorher den Bus-/Zugfahrplan (und teilweise auch noch den Stundenplan und die Klausurtermine der Tochter) im Kopf haben und hoffen, dass im veranschlagten Zeitraum auch noch Arzttermine verfügbar sind, dass kein anderer Termin die Aktion durchschlägt, dass ich benötigte Rezepte rechtzeitig bekomme und, und, und… Und das behagt mir überhaupt nicht, weil ich mich ja kenne. Diese vielen organisatorischen Vorgaben würden bei mir vermutlich permanent dazu führen, mich zu hinterfragen, was ich eventuell vergessen hätte.
Halt, Stopp! Moment mal, ich will doch nicht jammern und meckern über ein Angebot, das nicht nur angedacht ist, sondern auch tatsächlich das Zeug hat, Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen – Veränderungen, die wir dringend brauchen. Das bloß leider das Pech hat, in einer sehr herausfordernden Situation geboren zu werden. (Andererseits war es auch eine herausfordernde Lage, die überhaupt zur Planung dieses Angebotes geführt hat.) Also schalte ich mal einen Gang zurück, atme durch und fange nochmal an.
Ich schätze, wir brauchen einen Familienrat, also zumindest wir drei, die in einem Haus wohnen. Mit ein bisschen – oder auch ein bisschen mehr – Organisation lässt sich das bestimmt bewältigen. Und Anlaufschwierigkeiten, naja, wo gibt es die nicht? Vermutlich alles Gewöhnungssache.
Für den Anfang besteht ja auch die Möglichkeit, zweigleisig zu fahren. Also das Auto als Backup erstmal zu behalten. Es ist ja auch noch ungewiss, wohin nächstes Jahr nach dem Abi die Reise unserer Jüngsten geht: Beginnt sie direkt ein Studium zum Beispiel in Bielefeld, kann sie prima Zug fahren. Macht sie eine Ausbildung, ist nicht garantiert, dass potenzielle Arbeitgeber mit dem Rad oder Bus erreichbar sind. Und da eine Mietwohnung erstens überhaupt gefunden und zweitens auch noch finanziert werden müsste, steht auch diese Möglichkeit ziemlich weit weg in anderen Galaxien. Ich denke mit etwas Nostalgie an die Werkswohnungen und -siedlungen des letzten Jahrhunderts zurück. Hatte auch was.
Schau’n wir mal. Es wird sich finden.
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