„Die ziehen kleine Verbrecher groß“

Hast du den Spruch schon mal gehört? Vor längerer Zeit, also ungefähr vor 30 Jahren, wurde dieser blöde Satz des Öfteren benutzt, wenn man der Meinung war, Eltern würden ihre Kinder nicht gut und angemessen erziehen. Es bleibt festzustellen: Kein Mensch wird als Verbrecher geboren und auch die beste Erziehung schützt später nicht zuverlässig davor, als solcher zu enden.

Wenn ich also im Jahr 2023 mit Entsetzen in der Zeitung lesen muss, dass in einer benachbarten Stadt eine Bande ihr Unwesen treibt, deren Mitglieder zwischen 12 und 17 Jahren jung sind (und die Jüngsten ganz bewusst vorgeschickt werden bei Straftaten), wenn ich daran denke, dass schon in den letzten zwei Jahren in einem angrenzenden Landkreis zwei jugendliche Brüder in Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen so etwas wie Terror verbreitet haben, wenn ich dann auch noch erschüttert zur Kenntnis nehmen muss, dass zwei strafunmündige Mädchen eine Gleichaltrige mit zahlreichen Messerstichen getötet haben, dann bleibt mir das Motzen gewissermaßen im Hals stecken.
Deswegen heute ein ungewöhnlicher Montagsmotz der etwas anderen Art.

Wenn ich darüber nachdenke, dass vor einigen Jahren bereits in Großbritannien ein ähnlicher Fall mit ein paar kleinen Jungs als Tätern große Wellen schlug, wenn die Schlagzeile auf Seite 1 der Tageszeitung lautet „Mehr kriminelle Kinder im Kreis“ mit dem Untertitel, dass Ostwestfalen stärker von Kinderkriminalität betroffen sei als Nordrhein-Westfalen im Durchschnitt, dann läuft es mir kalt den Rücken runter. OWL als Heimat derer, die zum Lachen in den Keller gehen, die so dröge sind, dass sie jeden Sturzregen trocken überstehen, das ist der Ruf, der uns hier im äußersten Nordosten NRWs vorauseilt. Aber Hochburg der Kinderkriminalität? No way.

Und während manch ein vorschnelles Urteil gefällt wird, je nach politischem Blickwinkel die „Masseneinwanderung“ oder die „Pandemie mit ihren unausgegorenen Einschränkungen“ als Grund und Schuldiger an diesem Problem ausgemacht wird (beides spielt bestimmt eine Rolle – unter vielen anderen Aspekten), frage ich mich, ob die eigentlichen Gründe nicht eher gesamtgesellschaftlicher Art sein könnten. Ob der Krimi nicht eher ein Trauerspiel ist. Denn ein einzelner offensichtlicher Grund für eine gesellschaftlich bedenkliche Entwicklung hat noch immer zu kurz gegriffen.
So gibt es trotz Egoshootern und anderen menschenverachtenden Videogames zu Beginn der 2000er Jahre doch deutlich mehr Menschen, die zu ganz normalen und anständigen Erwachsenen geworden sind als potenzielle Amokläufer. Auch damals war den Jugendlichen, die solche Spiele cool fanden, eine fast schon zwingende Karriere als Berufskriminelle prophezeit worden. Selbst das Aufwachsen in sogenannten „Ghettos“ lässt sich nicht zuverlässig als Vorhersage eines Erwachsenenlebens heranziehen.

Was aber mit ziemlicher Sicherheit Spuren hinterlässt, das ist ein ganz allgemeiner schleichender Trend: Während Eltern zunehmend gezwungen sind, beide arbeiten zu gehen, um ein Familienleben überhaupt finanzieren zu können, brechen familienfördernde Strukturen weg. Wer keine Familie in der Nähe wohnen hat (oder wo die Großeltern selbst keine Zeit / kein Interesse haben), ist auf Fremdbetreuung angewiesen. Und der Rest der Gesellschaft und auch die Politik haben lange Zeit was gemacht?
Richtig: Eltern und vor allem Müttern ein Gefühl der Minderwertigkeit vermittelt, wenn sie ihre Kinder „weggaben“. (Ganz davon abgesehen, dass man in der alten Bundesrepublik dazu neigte, damit der kompletten ehemaligen DDR-Bevölkerung eine ordentliche Erziehung ihrer Kinder in der Fremdbetreuung abzusprechen.) Das Bild der idyllischen Familie als Ideal hochgehalten. Und im Gegenzug Kindertagesstätten nicht angemessen mit Personal und Mitteln ausgestattet, schulische Infrastruktur kaputtgespart (in meinem ehemaligen Gymnasium, das ich vor über 35 Jahren verlassen habe, sehen die Toilettenanlagen immer noch genauso aus wie Ende der 1980er Jahre, nur älter, kaputter und abgewrackter, wobei sie noch im oberen Level angesiedelt sind), Jugendsozialarbeit und -einrichtungen mit immer weniger Geld versorgt (ohne viele Ehrenamtliche ginge da meist gar nichts, und das liegt nicht daran, dass deren Leitungen nicht mit den knapper werdenden Gelder umgehen können).

Spielplätze wurden geschlossen statt renoviert, wenn die Geräte nicht mehr standsicher waren, weil es ja angeblich immer weniger Kinder in den Siedlungen gab. (Also: Für 15 Kinder „lohnt sich“ ein Spielplatz vielleicht noch, aber für fünf ist er rausgeschmissenes Geld?) Lange Zeit war es kaum sanktioniert, wenn Hundebesitzer ihren Hunden gestatteten, die Sandkästen als Hundeklo zu missbrauchen, stattdessen ärgerte man sich öffentlichkeitswirksam, wenn Jugendliche abends die Spielplätze als Ersatztreffpunkte nutzten (siehe oben) und dort Kippen und Scherben hinterließen.
Später dann wurde es gehypt, wenn Eltern ihre Kinder von vorn bis hinten pamperten, denn die „Zukunft der Gesellschaft“ war Mangelware, man hatte Angst, dass die zukünftigen Rentenzahler ausgehen könnten.
Aber eine vernünftige Infrastruktur und Strategie, wie man gesellschaftlich den Familien ein Leben mit Perspektive bieten kann, egal aus welchem „Milieu“ sie stammen, eine kontinuierliche, zukunftssichernde und wertschätzende Investition in Kitas und Schulen, Jugendzentren, Spiel- und Sportplätze, in die zeitgemäße Ausbildung von Erziehern und Lehrern, das wurde viel zu lange verpennt, auf allen möglichen Ebenen.

Es ist eben nicht genug, ab und zu mit der Gießkanne und im Hauruckverfahren irgendwas anzustoßen. Es ist und bleibt mühsam und kleinteilig, mit „hier eine Sanktion und dort ein Fördertopf“ ist es nicht getan.
Der Spruch „Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen“ kann heute durchaus auf ein Land erweitert werden. Es braucht unter anderem:
– Die Bereitschaft unterschiedlicher Akteure, über den eigenen Tellerrand und das eigene Portemonnaie hinwegzusehen.
– Die Erkenntnis mancher Eltern, dass nicht jeder Tadel eines familienfremden (und öfter mal älteren) Menschen in der Öffentlichkeit übergriffig und gegen ihre kostbaren Kinder gewandt ist (es gibt beides, Wohlwollen und Übergriffigkeit). Sondern dass diese den Kindern vermitteln, dass Freiheiten auch begrenzt sind. Was in manchen Familien leider nicht genügend passiert.
– Senioren, die Familien als Paten unterstützen und ihre Lebenserfahrung empathisch und ohne erhobenen Zeigefinger weitergeben.
– Politik und Institutionen, die nicht nur kurz vor Wahlen auf die Wähler von Morgen schielen. Und damit verbunden kontinuierliche Evaluation der Familienpolitik auf Zeitgemäßheit und Wirksamkeit.
– Mehr „wir“ und weniger „ich“. – Aber trotzdem die Bereitschaft, individuelle Familienentwürfe als gleichwertig zu den gesellschaftlich anerkannten Modellen anzuerkennen.
– Und noch viel mehr, auch Voraussetzungen, die auf den ersten Blick vielleicht widersprüchlich sind. Ausgewogen statt die üblichen Pendelbewegungen. Vor allem brauchen wir alle einen langen Geduldsfaden: Mit uns selbst, miteinander, mit Menschen, die alles ganz anders sehen als wir.

Was wir dagegen eindeutig nicht brauchen, ist eine hetzerische Meute, die in sozialen Medien in solchen Fällen fast schon geifernd nach Details zu Taten lechzt, um einen kranken Voyeurismus zu befriedigen. (Edit im Lauf des Montags: und drakonische Strafforderungen und/oder Selbstjustizdrohungen für die Täterinnen auch nicht! Dass weder Details noch Konsequenzen öffentlich kommuniziert werden, hat auch wichtige Gründe.)

Zum Schluss: Es gibt sicher noch viele weitere Facetten und Puzzleteile, die eine Rolle spielen. Was ich oben geschrieben habe, entspricht meiner persönlichen Wahrnehmung, es muss nicht alles richtig und vollständig sein. Aber was wir wirklich immer und zu jeder Zeit brauchen, ist ein Reflektieren unseres Lebensstiles und der Ziele, die wir persönlich und gesellschaftlich verfolgen. Ehrlich, empathisch und mit der Bereitschaft, Fehlentwicklungen anzugehen. Und das ist eben mühsam und die Erkenntnisse sind nicht immer schmeichelhaft.

Eine gute Sache, die bei uns hier von den Jugendämtern angeleiert wurde, sind da übrigens die „Frühen Hilfen“. Aus dem Budget der Jugendhilfe werden schon frischgebackenen Familien unterschiedliche Maßnahmen finanziert, das kann je nach Einzelfall Hebammenbetreuung oder eine Kinderkrankenschwester sein, die Familien mit kranken Kindern regelmäßig betreut, oder auch vorausschauende sozialpädagogische und sozialpädiatrische Begleitung von Familien, bei denen ein klassisches Familienleben schwierig sein könnte.

Passend zum Thema ist auch der letzte Woche stattgefundene Bildungsgipfel. Es gab mal einen Film mit dem Titel Der Engländer, der auf einen Hügel stieg und von einem Berg herunterkam.
Analog dazu könnte man die Veranstaltung nennen:
Die Bildungsministerin, die auf einen Bildungsgipfel stieg und von einem Hügel herunterkam.

Autor: Annuschka

Ostwestfälisch beharrlich, meistens gut gelaunt, Buchhändlerin, Ehefrau, Mutter von drei tollen Töchtern, Hundemama, Jugendarbeiterin (in zeitlicher Reihenfolge des Auftretens). Mit vielen Interessen gesegnet oder geschlagen, je nach Sichtweise ;-)

5 Kommentare zu „„Die ziehen kleine Verbrecher groß““

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