Neunundvierzig Euro

Bahnhaltepunkt Oldenburg/Holstein, April 2022

Ab sofort kann man das heißersehnte Deutschlandticket erwerben. Bevorzugt (und dauerhaft irgendwann ausschließlich) allerdings digital (in einer Übergangszeit bekommt man es per Mail und darf es ausdrucken, also halbdigital), was langfristig die Menschen ausschließen wird, die kein Smartphone besitzen. Wenn es dabei bleibt. Egal, ob man also freiwillig (auch das gibt es immer noch), wegen prekärer finanzieller Situation oder aus elterlicher Einsichtslosigkeit, dass man mit X (hier beliebige Zahl zwischen 6 und 18 einsetzen😂) Jahren „so etwas“ noch nicht benötigt, auf die moderne Technologie verzichtet. Das ist schon mal der erste Stolperstein. Obwohl, vielleicht in ein paar Jahren nicht mehr, ich bin mir dabei nicht ganz sicher. Menschen sind so unberechenbar.

Dann muss man ein Abo abschließen. Das ist zwar sehr großzügig monatlich kündbar, aber ich vermute, es wird heimlich darauf spekuliert, dass man diese Kündigung ganz gern mal bis zum Sankt Nimmerleinstag aufschiebt. Ich wurde vor ein paar Tagen darauf aufmerksam gemacht, dass durch dieses Modell ein großes Problem für Menschen mit negativer Schufa-Auskunft entstehen könnte. Denn gerade diesen Leuten, denen eine zuverlässige und preisgünstige Versorgung mit ÖPNV sehr helfen könnte, ihren Alltag zu bewältigen, könnte zumindest in einigen Bundesländern durch den Eintrag der Zugang verwehrt bleiben. Da das Ticket personalisiert wird, kann ich zurzeit nicht beurteilen, ob es die Möglichkeit gibt, es durch Angehörige oder Freunde zu bestellen.

Das dritte Manko liegt ausnahmsweise nicht in dem Bereich, auf den die Entwickler des Tickets Einfluss haben: wo sollen Busse, Bahnen und Fahrer herkommen? Bei uns in der Gegend gilt schon seit über einem Vierteljahr ein Notfahrplan für den Busverkehr, es fährt nur jeder zweite Bus der wichtigsten Linien. In anderen OWL-Bereichen schlagen die Busunternehmen inzwischen den Schulen vor, den Schulbeginn zeitlich zu staffeln, da sonst auf absehbare Zeit der Schülertransport crashen könnte. Die Bahnunternehmen klagen über Personalmangel. Bei der „Hardware“ (Busse, Züge, Stellwerke, Weichen …) sieht es auch nicht rosig aus.

Damit wir uns richtig verstehen, ich wünsche dem Ticket vollen Erfolg, aber bin momentan unsicher, ob das nicht ein vergifteter Wunsch ist.
Augenblicklich und bereits seit einigen Wochen grübele ich darüber, ob es sinnvoll sein könnte, meinen kleinen Cityflitzer zu verkaufen und es mit einem Auto zu schaffen. Ganz rational gesehen dürfte das eigentlich kein Problem darstellen. Aber die Fahrplanunsicherheiten, die Tatsache, dass nicht alle notwendigen Ärzte und anderen Einrichtungen, die man dann und wann benötigt, zu jeder Zeit und jedem Termin auch öffentlich erreichbar sind (wenn überhaupt), die sind nicht trivial. Meinen Rheumatologen zu erreichen, ist für mich mit dem Bus eine halbe Weltreise und dauert auch fast so lange. Das ginge mit Hängen und Würgen und nur an Tagen, an denen ich nicht arbeite. Die Therapeutin unserer Tochter ist für sie nach dem Ende des Schultages mit ÖPNV außerhalb jeglichem Rahmen. (Das spricht eindeutig dafür, Arztpraxen und Therapieeinrichtungen bevorzugt in gut erreichbaren Innenstädten anzusiedeln.) Und was ist, wenn sich nicht vermeiden lässt, dass zwei Familienmitglieder fast zeitgleich in unterschiedliche Richtungen müssen? Fragen über Fragen, die wie ein Berg vor mir stehen. Dabei könnte ich mit dem Ticket ungefähr die Hälfte meines jährlichen Mobilitätsbudgets einsparen, das ich für das Auto brauche.

Ich müsste nur bei jedem Arzttermin, den ich abmache, vorher den Bus-/Zugfahrplan (und teilweise auch noch den Stundenplan und die Klausurtermine der Tochter) im Kopf haben und hoffen, dass im veranschlagten Zeitraum auch noch Arzttermine verfügbar sind, dass kein anderer Termin die Aktion durchschlägt, dass ich benötigte Rezepte rechtzeitig bekomme und, und, und… Und das behagt mir überhaupt nicht, weil ich mich ja kenne. Diese vielen organisatorischen Vorgaben würden bei mir vermutlich permanent dazu führen, mich zu hinterfragen, was ich eventuell vergessen hätte.

Halt, Stopp! Moment mal, ich will doch nicht jammern und meckern über ein Angebot, das nicht nur angedacht ist, sondern auch tatsächlich das Zeug hat, Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen – Veränderungen, die wir dringend brauchen. Das bloß leider das Pech hat, in einer sehr herausfordernden Situation geboren zu werden. (Andererseits war es auch eine herausfordernde Lage, die überhaupt zur Planung dieses Angebotes geführt hat.) Also schalte ich mal einen Gang zurück, atme durch und fange nochmal an.
Ich schätze, wir brauchen einen Familienrat, also zumindest wir drei, die in einem Haus wohnen. Mit ein bisschen – oder auch ein bisschen mehr – Organisation lässt sich das bestimmt bewältigen. Und Anlaufschwierigkeiten, naja, wo gibt es die nicht? Vermutlich alles Gewöhnungssache.
Für den Anfang besteht ja auch die Möglichkeit, zweigleisig zu fahren. Also das Auto als Backup erstmal zu behalten. Es ist ja auch noch ungewiss, wohin nächstes Jahr nach dem Abi die Reise unserer Jüngsten geht: Beginnt sie direkt ein Studium zum Beispiel in Bielefeld, kann sie prima Zug fahren. Macht sie eine Ausbildung, ist nicht garantiert, dass potenzielle Arbeitgeber mit dem Rad oder Bus erreichbar sind. Und da eine Mietwohnung erstens überhaupt gefunden und zweitens auch noch finanziert werden müsste, steht auch diese Möglichkeit ziemlich weit weg in anderen Galaxien. Ich denke mit etwas Nostalgie an die Werkswohnungen und -siedlungen des letzten Jahrhunderts zurück. Hatte auch was.

Schau’n wir mal. Es wird sich finden.

Autor: Annuschka

Ostwestfälisch beharrlich, meistens gut gelaunt, Buchhändlerin, Ehefrau, Mutter von drei tollen Töchtern, Hundemama, Jugendarbeiterin (in zeitlicher Reihenfolge des Auftretens). Mit vielen Interessen gesegnet oder geschlagen, je nach Sichtweise ;-)

10 Kommentare zu „Neunundvierzig Euro“

  1. Ich weiß wie immer wenig über deutsche Verhältnisse. Daher die Frage: für welchen Zeitraum bezahlt man die 49 Euro und kann man damit in ganz Deutschland fahren? Ich bin lästig: und was ist eine Schufa-Auskunft ? Liebe Grüße an die Auskunftsstelle

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    1. Alles gut, geht mir mit Österreich ja genauso. Gut, dass du nachfragst!
      49 Euro ist (zunächst, Preisanpassungen werden sicher irgendwann kommen) der Preis für einen Kalendermonat. Und man kann damit den öffentlichen Nahverkehr, also Busse, S-Bahnen, Regionalbahn nutzen. Nicht enthalten sind die Fernbusse und der Schnellverkehr (IC, EC, ICE…)
      Was ich noch nicht weiß, aber in Erfahrung bringen will, ist der Fährverkehr zum Beispiel auf die ostfriesischen Inseln. Denn ich kann eine Fahrkarte von hier bis Wangerooge buchen, bei der Bahn. Das muss ich unbedingt noch rausfinden.
      Und die Schufa ist eine Auskunftei, die von Kreditinstituten ins Leben gerufen wurde, um Bonitätsauskünfte von Firmen und Privatpersonen einzuholen und zur Verfügung zu stellen. Aus verschiedenen Gründen ist die Schufa ein bisschen ins Zwielicht geraten, unter anderem sind sie immer ziemlich schnell, wenn es um das Einpflegen von Negativeinträgen geht, aber zu langsam, wenn sie Einträge wieder löschen sollen, weil die Grundlage dafür entfallen ist.

      Liebe Grüße zurück von der Auskunftsstelle😅

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  2. Nun ja, was die Smartphones angeht, so liegt der Anteil derer, die damit versorgt sind, in den Altersgruppen zwischen 14 und 19, zwischen 20 und 29 und zwischen 30 und 39 jeweils bei so um bzw. über 95 %. Lediglich in der Altersgruppe ab 70 Jahren sind nur gut 68 % mit so einem Gerät versorgt, was soooo wenig jetzt aber auch wieder nicht ist. Natürlich kann das in Einzelfällen ein bisschen umständlich werden, aber wir fahren ja auch nicht aus Rücksicht darauf, dass nicht jeder einen Führerschein hat, immer noch Pferdekutsche.

    Was die Schufa angeht, kann man sich das Ticket von TransDev über deutschlandticket.de organisieren, die verzichten auf die Abfrage. Dafür muss man aber in Vorkasse gehen und bekommt dann erst das Ticket. Absolut fair, finde ich.

    Das dritte Problem ist durchaus eines, aber eben eines, dass hier damit angegangen wird, dass gefragt wird, wie zukünftiger Bedarf an irgendwas gedeckt werden kann, wenn alles so bleibt, wie heute. Ebenso könnte ich fragen, wie denn die heutige Anzahl an Ladesäulen ausreichen soll, wenn alle morgen ein E-Auto haben. Hamse aber nich. 😉 Natürlich muss aber in der Hinsicht noch so einiges passieren.

    Mittelfristig hoffe ich jedenfalls, dass sich das Ticket und der ÖPNV durchsetzen. Natürlich gilt dann hier das Henne-Ei-Prinzip. Solange das Angebot nicht ausgebaut wird, wird im ländlichen Raum kaum jemand auf sein Auto verzichten wollen. Und solange im ländlichen Raum nicht viele auf ihr Auto verzichten und somit potenzielle Kundschaft darstellen, wird kein Anbieter das Angebot erweitern wollen. Schwierig …

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    1. Danke erstmal für dein umfangreiches Zahlenmaterial. Da ich „nebenbei“ am Einspruch gegen den Grundsteuerfeststellungsbescheid werkele, hatte ich keine Muße, mir diese Hintergrundinfos einzuholen. Die Info über Transdev finde ich sehr hilfreich, die gebe ich mal an den Betroffenen weiter. Merci.

      Und ja, das dritte Problem ist ja in sehr vielen Bereichen akut. Ich denke auch, dass sich durch ganz unterschiedliche Maßnahmen einiges lösen wird. Und ich stehe ja auch selbst auf dem Standpunkt, wenn ich es nicht selbst ändere, warum sollen es dann andere?
      Mit dem Beitrag wollte ich vor allem darauf hinweisen, dass egal wie man sich entscheidet, man auch immer damit gesellschaftlich relevant handelt – in die eine oder andere Richtung. Und dass es einen langen Atem braucht, um Veränderung anzuschieben. Und vor allem, dass die ganzen Themen miteinander vernetzt sind und nicht isoliert betrachtet werden sollten.

      Nicht zuletzt bin ich dankbar für alle, die sich mit Problemen sachlich und auf eine gute Weise auseinandersetzen. Ob durch Widerspruch, andere Erfahrungen oder wie auch immer.

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    2. Keine Ursache – ich recherchiere gerne, vergesse nur leider vieles davon umgehend wieder … 😉

      Falls ich damit der besagten Betroffenen weitergeholfen haben sollte, vermittelt mir das fürs Wochenende jetzt erst mal ein gutes Gefühl. 🙂

      Und ja, der Grundsteuerfeststellungsbescheid, da war ja noch was … Ach, der kam erst Dienstag, hat noch Zeit. Wenn die Kommune ihren Hebesatz aber nicht noch senkt, bin ich 2025 grundsteuerbedingt pleite … 🙂

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    3. Dann kannst du ein gutes Gefühl mit ins Wochenende nehmen. Und was Grundsteuer angeht: geht mir ähnlich. Ein großer Teil meines Gartens ist neuerdings als „baureifes Land“ klassifiziert und mächtig teuer geworden. Dabei ist dort kein Bauen möglich, sonst hätte meine Älteste dort schon ein schmuckes Haus stehen. Es ist keine Feuerwehrzufahrt möglich und das ist K.O.- Kriterium.

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  3. Hallo, ausnahmsweise bin ich mal glücklich, in einer Großstadt mit ziemlich gut funktionierendem ÖPNV zu wohnen. Bisher bin ich ja mit dem jährlich komplett bezahlten Abo für die Gruppe 65+ gefahren.
    Mir hat die BVG folgendes geschrieben:
    „Aus diesem Grund stellen wir dein VBB-Abo 65plus zum 1. Mai 2023 automatisch auf das Deutschlandticket um. Deine neue Chipkarte (fahrCard) erhältst du rechtzeitig vor dem Start von uns und wir buchen ab Mai 2023 nur noch 49 Euro monatlich von deinem Konto ab.“
    Das schreibe ich jetzt nur, weil es offensichtlich auch mit Chipkarte geht – vielleicht trauen sie den alten Leuten das mit dem Smartphone digital nicht zu.
    Ich zahle fast das gleiche wie vorher, weil es für Rentner eine kräftige Ermäßigung gab – die fällt jetzt weg, dafür kann ich deutschlandweit auf Busse und Bahnen warten, weil die nicht kommen 🙂 😉
    Lieben Gruß aus Berlin von Clara

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