
Gibt es einen besser geeigneten Tag, um ein Buch vorzustellen, das sich mit Arbeit beschäftigt? Ich denke nicht. Der etwas provokante Titel verrät schon, warum Arbeit nach Corona, Krieg und der immer darüber schwebenden Metakrise Klimawandel das Zeug hat, das Aufregerthema 2023 zu werden.
Was haben wir denn in diesem Frühjahr schon alles anhören müssen:
Herr Kampeter [ehemals Bundestagsabgeordneter (1990 bis 2016) und parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesfinanzminister (2005 bis 2015), seit 2016 Hauptgeschäftsführer des BDA, gebürtiger Mindener] fordert lautstark und medienwirksam: Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit.
Ganz polemisch sage ich einfach mal: Lässt sich bequem verlangen, wenn man selbst nicht in einer Position ist, nach vielen Überstunden auf der Demenzstation nicht mehr gerade gehen oder denken zu können. Oder das Gefühl hat, den Asphaltgeruch nicht mehr aus den Poren zu bekommen, das Gepiepe der Scanner an der Kasse schon seit Jahren verantwortlich für einen Tinnitus ist oder was auch immer. (Natürlich brauchen wir auch Menschen, die vom Chefsessel aus den Überblick haben, nicht jeder taugt für jede Arbeit und es ist super sinnvoll und gut, dass es unterschiedliche Begabungen gibt. Aber seine Aussage empfinde ich schon als sehr übergriffig.)
Menschen, die sich aus Angst und als Mahnung vor der Klimakatastrophe (ohne das in diesem Moment bewerten zu wollen, meine Protestform der Wahl wäre es nicht) auf Hauptverkehrsstraßen festkleben, wird entgegengeschleudert: „Geht erstmal arbeiten, was habt ihr denn schon geleistet?“ Gut, das Festkleben erledigen meist junge Leute, die dafür oft ihr Studium unterbrechen, aber bei der Letzten Generation sind durchaus auch gestandene Leute dabei, die ihr Lebensarbeitswerk schon hinter sich haben. Übrigens so eine witzige urdeutsche Weise, jungen Leuten ihr Jungsein vorzuwerfen. War ja bei FFF nicht anders („Geht erstmal zur Schule und lernt anständig. Was könnt ihr denn schon an Lebensleistung aufweisen?“ Bemerkenswert, wie viele Menschen als studierter Ökonom, CEO oder meinetwegen auch Handwerksmeister zur Welt gekommen sind…)
Gewerkschaften sind selbstbewusst und streiklustig wie seit langem nicht, wenn es darum geht, für ihre Branchen neue Tarife zu erzwingen, was ich total wichtig finde, nur leider gehen wie fast immer diejenigen leer aus, die in Branchen oder Betrieben ohne Tarifbindung für Mindestlohn (oder als Praktikanten sogar für noch weniger) arbeiten.
Das Buch von Sara Weber provoziert, auch abseits des Titels. Aber vor allem provoziert es, sich aus unterschiedlichen Sichtweisen mit dem Thema Arbeit auseinanderzusetzen. Es macht erschreckend deutlich, dass Arbeit keine Insel ist, die man getrennt von anderen gesellschaftlichen Entwicklungen oder von globalen Herausforderungen abgekoppelt betrachten kann. Der folgende Ausschnitt aus dem ersten Teil des Buches fasst es sehr anschaulich zusammen:
Früher war das Versprechen von Arbeit klar: Wer hart arbeitet, wird es mal besser haben. Wenn ihr auf den Markt vertraut, gibt es Wohlstand für alle. Mein Haus, mein Auto und so. Dieses Versprechen funktioniert nicht mehr. Junge Menschen arbeiten und arbeiten, aber können es sich trotzdem nicht leisten, eine Immobilie zu kaufen, weil alles viel zu teuer geworden ist. Wir wissen nicht, ob wir irgendwann eine Rente bekommen, von der wir leben können. Und wenn wir die Klimakrise nicht in den Griff bekommen – und zwar schnell –, haben wir keine Lebensgrundlage mehr. Der Grund, um immer mehr und immer härter zu arbeiten, existiert nicht mehr.
Im eBook markiere ich mir immer wieder verschiedene Aussagen, weil das Thema so dicht, so vielfältig ist, dass ich mich mit den Thesen und Situationsbeschreibungen länger beschäftigen muss und möchte. Denn das Thema hat es verdient, dass ich es nicht einfach konsumiere wie einen Wirtschaftskrimi, sondern mich wirklich tiefer hineindenke.

Wie bei jedem guten Sachbuch, finde ich auch hier hilfreiche Fakten, die ich noch nicht kannte und in meiner Meinungsbildung beachtet hatte. Zum Beispiel zur Entwicklung der Arbeits(zeit)modelle, wie wir sie heute kennen.
Oder dass es in Japan Fachbegriffe gibt für Überarbeitung und sogar für den Tod durch selbige. Was mich erstaunt hat, galt doch Japan lange als Paradebeispiel für Selbstdisziplin und strenge Arbeitsmentalität.
Es gibt Beispiele, die außerhalb meiner Erfahrungswelt liegen (Arbeitswelt aus der Sicht marginalisierter Gruppen, Beschäftigungs“modelle“ angestellter Lehrer). Es gibt Thesen, bei denen ich erstmal auf Abwehr gehe und denke: aber das ist doch schon lange nicht mehr so (Arbeitsausbeutung migrantischer Frauen in Care-Berufen, und doch, gibt es, wenn ich an die 24/7-Pflegekräfte aus Osteuropa erinnern dürfte…)
Alle diese Punkte sind es aber eindeutig wert, bedacht zu werden, auch von Ökonomen und Arbeitslobbyisten. Wir leben in Deutschland (andere Länder kann ich nicht beurteilen) in einer Atmosphäre, in der uns vieles suspekt ist, was nicht unserer eigenen Sichtweise und Erfahrung entspricht. Und wir haben eine unglaubliche Regelungswut, was sich augenblicklich in der Diskussion um die 4-Tage-Woche wieder deutlich zeigt:
Erstens wird entweder auf dieses Modell gepocht oder es wird ebenso verbissen niedergemacht. Es wird darüber gestritten, dass eine solche Regelung überhaupt nicht regelbar und umsetzbar sei, weil in vielen Branchen dann nicht die Zeiten abgedeckt werden können.
Seit Jahren wird mehr Flexibilität in der Arbeitswelt gefordert, aber hier stehen wir anscheinend schon wieder wie der Ochs‘ vorm Berg und gucken blöd.
Kennt ihr Marie Kondo? Die Ausmist-Expertin? Eine Marie Kondo der Gesetzgebung und des Verordnungsdschungels bräuchten wir dringend. Nicht mit der Fragestellung: Macht uns dieses Gesetz noch glücklich? Sondern: Ist es hier und jetzt noch hilfreich, bringt es uns weiter, nutzt es den Menschen/der Gesellschaft?
Und zukünftig: Immer, wenn ein neues Gesetz in den „Kleiderschrank“ kommt, muss ein altes ausgemustert werden. Das klingt und ist wahrscheinlich etwas übertrieben, aber in einigen Bereichen habe ich schon lernen müssen, dass es für manche Aufgabenstellungen Gesetze und Verordnungen gibt, die einander widersprechen und so ein sinnvolles Handeln wahnsinnig erschweren.
Wirtschaftslenker laufen dem Bruttoinlandsprodukt hinterher und tanzen da herum wie um das goldene Kalb. Dabei ist die Fixierung auf diesen einen Punkt kontraproduktiv, das dürften wir aus vielen Negativbeispielen doch inzwischen gelernt haben: Das BIP steigt, wenn es eine Katastrophe wie die Ahrtalflut gegeben hat, weil dann viel Umsatz durch die Beseitigung der Folgen entsteht. Das wiegt mehr als das Leid der betroffenen Bewohner. So etwas ist doch krank!
Wenn Eltern zuhause bleiben, um sich um ihre kleinen Kinder oder pflegebedürftigen Eltern zu kümmern, wenn Menschen sich ehrenamtlich um Alte, Kranke, Migranten, Sterbende, vernachlässigte Kinder (beliebig fortzusetzen) bemühen, dann trägt es nicht zu einer „gesunden Wirtschaft“ bei. Ob es aber für das gesellschaftliche Miteinander positive Auswirkungen hat, zur Zufriedenheit und einem guten Selbstwertgefühl beiträgt, ist vollkommen egal.
Was mich ein bisschen erschreckt, bei vielen Schlagzeilen in den Medien, bei Diskussionen und Talkshows mit Lobbyisten, Experten, Wissenschaftlern, Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern, aber auch bei Meinungen „von der Straße“:
Einmal mehr drohen wir in eine furchtbare Falle zu tappen. In die Falle der Polarisierung, der Vereinfachung, der lautstarken Debatte um Extrempositionen, des Abbügelns aller, die versuchen, Ruhe, Differenzierung und eine seriöse, abwägende Diskussion hineinzubringen.
Weil so ein Themenbereich, der sich durch ganz viele Lebensbereiche zieht, nicht mal eben in drei Wochen abgehakt werden kann. Wir sind anscheinend echt nur noch begrenzt lernfähig, noch begrenzter als früher. Die „Fronten“ verhärten sich (im Jahr 2023, angesichts aller Kriege auf der Welt, finde ich es übel, in zivilen Konflikten von Fronten zu reden, aber es hat ja teilweise kämpferische Ausmaße), wozu auch die allgegenwärtigen Algorithmen und die Meinungsblasen der sozialen Medien ihren Beitrag leisten.
Manchmal denke ich, die Menschheit ist systemisch degeneriert.
Oje, ich bin schon wieder schwafelig geworden. Nicht alles, was ich hier geschrieben habe, steht 1:1 im Buch. Aber alles entspringt den Gedankengängen, die mir beim Lesen gekommen sind. Und selbstverständlich kann und darf man das alles auch ganz anders sehen als ich.
Aber gerade deshalb finde ich es sehr wertvoll, mich einmal mit diesen Problemen und Lösungsansätzen genauer auseinanderzusetzen. Es gibt den Spruch: „Franzosen arbeiten, um zu leben. Deutsche leben, um zu arbeiten.“
Da ist was dran. Das fleißige, disziplinierte und ehrgeizige Wirtschaftswunderland sollte dringend mal wieder ein wenig mehr in Richtung Genuss schnuppern. Die junge Generation macht es uns vor.
Es wird immer Menschen geben, die sich über ihre Arbeit definieren. Aber es wird auch Menschen geben, die sich neu überlegen, ob alles noch so passt.
Lest das Buch. Es lohnt sich, auch, wenn ihr nicht in einer Neufindungsphase seid. Wenn ihr offen seid, über den Tellerrand der eigenen Sichtweise zu schauen.
Über dieses Buch:
Im März 2020 änderte sich alles. Homeoffice war plötzlich die neue Norm. Alle mussten sich digitalisieren und transformieren – ob sie wollten oder nicht. Die Arbeit drängte weiter ins restliche Leben, zur Erwerbsarbeit kam noch mehr Carearbeit. Die Schere zwischen systemrelevanten Berufen und Bürojobs ging weiter auf. Covid hat uns gezeigt, was in der Arbeitswelt nicht mehr funktioniert.
Und da ist nicht nur die Pandemie: Überschwemmungen, Waldbrände, Inflation, Krieg – unsere Welt steht in Flammen, im wahrsten Sinne des Wortes. Und wir? Brennen aus, um bloß keine Deadline zu reißen. Was zur Hölle machen wir da eigentlich? Warum tun wir uns das an?
Immer mehr Menschen stellen sich diese Fragen, einige ziehen Konsequenzen. In den USA hat der Trend sogar schon einen Namen: »The Great Resignation«, das große Kündigen. Es bricht eine neue Ära an, aber weder durch agile Methoden noch durch Yoga im Alltag wird es gelingen, ein für uns alle und für den Planeten verträgliches Wirtschaften zu realisieren. Wir müssen uns überlegen, wie Arbeit heute und morgen wirklich funktionieren kann – mit einem Fokus auf Gerechtigkeit, Zukunftsfähigkeit und den Menschen.
Sara Weber ist Journalistin, Expertin für die Arbeitswelt der Zukunft und war als Redaktionsleiterin von LinkedIn das Gesicht des Netzwerks in Deutschland, bis sie selbst Teil der »Great Resignation« wurde. In diesem Buch geht sie den Fragen nach, die gerade eine ganze Generation umtreiben, und zeigt Lösungen auf, die Arbeit besser machen können.
Bibliographische Angaben:
Sara Weber
Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?
Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00415-1
18,- €
Danke für die Arbeit, die Du Dir hier gemacht hast! 💐
LikeGefällt 1 Person
Gern. Ich habe es nicht mal als Arbeit empfunden, weil mein Gedankenkarussell augenblicklich keine Bremse hat😁
LikeGefällt 2 Personen
Schreiben ist ein gutes Instrument, um Gedanken zu sortieren. Das geht mir auch so. Und als Arbeit sehe ich es nicht, sobald ich mich freiwillig an die Arbeit mache.
Wenn Ich mit dem Rad fahre, habe ich meist so viel Freude daran, dass ich ganz vergesse, dass ich Sport treibe. Das ist ein ähnliches Phänomen.😁
LikeGefällt 1 Person
Wer hart arbeitet, wird es nicht mehr besser haben. Mit Glück und Weitsicht wird er/sie seine/ihre Rechnungen bezahlen können. Ich kann gar nicht beschreiben, wie froh ich bin, diesen zunehmenden Irrsinn in absehbarer Zeit den Rücken kehren zu dürfen. Oder sozialverträglich abzuleben, wie es so charmant heißt, in diesem unseren Volk der Erbsenzähler und Buchhalter. Was einerseits ehrbar ist, aber immer schon zur Perversion neigte.
Auf der anderen Seite gibt es den Mangel an Fachkräften, da liegt viel Potential für Verbesserung für jede einzelne Fachkraft. Von daher sehe ich die Entwicklung nicht allzu negativ, kommt halt drauf an, was die nachfolgende Generation daraus macht.
LikeGefällt 1 Person
Du schreibst „Von daher sehe ich die Entwicklung nicht allzu negativ, kommt halt drauf an, was die nachfolgende Generation daraus macht.“ Ich stimme dir vollkommen zu.
Solange aber solche Leute wie Herr K. aus M. und andere Arbeitszeitfetischisten seiner Generation den Daumen drauf haben und maßgeblich für die Aushandlung von Arbeitsmodellen verantwortlich sind, ist es zumindest schwierig. Und gegenüber jüngeren Leuten permanent mit der Lebenserfahrung/-leistung zu kommen, die ihnen logischerweise noch fehlt, ist schon heftig.
Ich gehörte lange Jahre auch zu den Menschen, denen ihr Vollzeitjob wichtig war, trotz Kindern, Haus, Garten und allem anderen. Seit ich mich ganz bewusst entschieden habe, meine Prioritäten anders zu setzen, geht es mir besser. Allerdings habe ich den Luxus, es mir leisten zu können. Nicht, weil wir finanziell auf Rosen gebettet sind, sondern weil wir nur noch ein Kind zu versorgen haben und keine großen Ansprüche stellen, was unseren Lebensstandard angeht.
Unser Boot finanzieren wir durch die Vercharterung (anders wäre es weder möglich noch sinnvoll), das Haus ist alt und nicht durchsaniert, ich tapeziere und dekoriere auch nicht alle zwei bis drei Jahre neu und „Fast Fashion“ oder so hat noch nie jemanden aus der Familie interessiert.
Und trotzdem habe ich das Gefühl, ich leiste mir mehr, seit ich weniger arbeite. Mehr von dem, was mir und uns guttut.
Lieber Reiner, einen schönen Tag der Arbeit und das mit dem sozialverträglichen Frühableben lass mal lieber sein😉
Anja
LikeGefällt 1 Person
Ich stehe zwar seit gut vier Jahren nicht mehr im Arbeitsleben, werde mir dieses Buch aber dennoch auf die Muss-Lesen-Liste setzen. Ich habe mir in meinen über vierzig Jahren im Job oft genug den A*** aufgerissen, und hinterher mich fassungslos fragen müssen, warum ich eigentlich so dumm gewesen bin. Denn gedankt wird es einem im Grunde genommen nur selten. Nicht nur die Arbeitsbedingungen sollten sich ändern, sondern auch das Verhalten vieler Arbeitgeber:Innen gegenüber ihren Angestellten. Ich denke, dass wir da trotz überbordender deutscher Bürokratie und lautem Gezetere und Gestreite ein kleines bisschen auf dem richtigen Weg sind.
LikeGefällt 1 Person
Soeben habe ich mir im ZDF die Sendung mit Sarah Tacke angeschaut, das war auch sehr aufschlussreich. Auch was der Münchener Elektroinstallateur sagte und wie er Leute sucht und findet.
Auch da geht es ja um Wertschätzung.
LikeGefällt 1 Person