(Um Missverständnissen vorzubeugen: Alles, was ich im Zusammenhang mit den Texten des Fastenkalenders schreibe, sind ausschließlich Gedanken, die mir ganz persönlich bei der Beschäftigung mit den Themen kommen. Sie haben ihren Ursprung in meinen bisherigen Erfahrungen und in meiner aktuellen Situation. Sie sind also weder allgemein- noch endgültig.)
Hast du schon mal von Herrn Tur Tur gehört? Wenn nicht, solltest du vielleicht mal Michael Endes Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer lesen.
Herr Tur Tur lebt sehr einsam in der Wüste am Ende der Welt. Eigentlich ist er ein umgänglicher und freundlicher Mensch, er hat nur eine außergewöhnliche Besonderheit: aus weiter Ferne betrachtet ist er ein Riese. Deswegen traut sich auch niemand näher an ihn heran, denn wenn jemand schon aus Entfernung so groß ist, wie gewaltig muss er in der Nähe sein?
Allerdings kehrt sich bei Herrn Tur Tur das Naturgesetz der Optik um: denn je näher man ihm kommt, desto kleiner wird er. Steht man vor ihm, ist er nicht größer als der Durchschnitt. Er ist ein Scheinriese.
Jim Knopf und Lukas stellen das fest, als sie ihren ganzen Mut zusammennehmen und der Einladung des einsamen Herrn Tur Tur, ihm doch näherzukommen und sich mit ihm zu unterhalten, folgen. Schlussendlich findet sich auch noch auf Lummerland ein Platz für den Scheinriesen, an dem er genau richtig ist.
Ich will mit dieser Geschichte keineswegs Ängste relativieren. Sehr viele Ängste haben ihre Berechtigung (z.B. ganz konkrete, erfahrungsgestützte Ängste vor Situationen oder Personen) oder sind in uns fest verankerte Übrigbleibsel aus einer Zeit, wo alles Unbekannte, auf das unsere Vorfahren stießen, potenziell lebensbedrohlich sein konnte. Angst war lange Zeit DER Faktor, der entschied, ob man überlebte oder umkam. Angst stellt dem Körper Adrenalinreserven zur Verfügung, die dafür sorgen, dass man sowohl körperlich als auch mental Kräfte mobilisiert. Damit man blitzschnell Entscheidungen treffen und umsetzen kann (Fluchtreflex). Angst kann aber auch lähmen (je nach Gegner konnte auch „totstellen“ die bessere Entscheidung sein).
Inzwischen leben wir in einem Zeitalter, in dem viele Urängste nur noch begrenzte Lösungsansätze bieten.
Die Angst vor dem Feuer wird durch immer strengere Brandschutzmaßnahmen, Rauchmelder sowie gut ausgebildete und leistungsstarke Feuerwehren im Zaum gehalten.
Die Angst vor Überschwemmungen, Vulkanausbrüchen, Stürmen etc. wird durch Monitoring von Wetter, Plattentektonik und allem möglichen anderen zumindest eingegrenzt. Erdbeben sind aber nach wie vor eine relativ unberechenbare Größe, wie zahllose Menschen in der Türkei und in Syrien gerade erst leidvoll erfahren mussten. Allerdings hätte diese Katastrophe auch um ein vielfaches geringer ausfallen können, wenn die Erkenntnisse von Erdbebenforschern, Statikern und anderen, die in dem Bereich tätig sind, durchgängig befolgt worden wären. Korruption und menschliche Gewinnsucht haben die Vorsorge zerstört.
Die Ängste haben sich gewandelt. Dort, wo durch Erforschung und Prävention sinnvolle Maßnahmen ergriffen und auch durchgehalten werden, werden Ängste beherrschbar. Medizinische Vorsorgeuntersuchungen, bauphysikalische Vorschriften, sicherheitstechnische Einrichtungen wie die Gurte im Auto, unglaublich viele Gefahren wurden durch menschlichen Erfindergeist entschärft.
Bemerkenswert finde ich, dass die Angst aber so elementar in unserer DNA verwurzelt scheint, dass wir uns andere Ängste teilweise suchen oder erschaffen.
Menschen mit Flugangst haben oft wahnsinnige Angst vor Flugzeugabstürzen, setzen sich aber frohgemut jeden Tag ins Auto, obwohl nach statistischen Erhebungen die Gefahr, durch einen Autounfall ums Leben zu kommen, um ein vielfaches größer ist.
Die Angst vor Spinnen hat ganz objektiv gesehen in Mitteleuropa überhaupt keinen rationalen Grund (das ändert sich in anderen Erdteilen, aber wie viele von uns werden dort nie hinfahren?), ist aber bei so manchem viel ausgeprägter als die Angst, im Haushalt beim Putzen oder bei Reparaturarbeiten von einem wackeligen Tisch-Stuhl-Leiter-Konstrukt zu stürzen und sich die Gräten zu brechen.
Die beiden Beispiele haben eines gemeinsam: es geht um Kontrollverlust. Im Flugzeug vertraue ich mein Leben einer mir unbekannten Crew an, das Auto steuere ich meist selbst. Die Spinne und ihre Sympathie oder Antipathie mir gegenüber kann ich nicht einschätzen. Baue ich mir aber eine fragwürdige Konstruktion, um an unzugängliche Stellen dranzukommen, traue ich mir logischerweise zu, sie so zu bauen, dass ich keinen Schaden nehme.
Traue ich andererseits den Forschern von großen Pharmakonzernen, dass sie Medikamente entwickeln, deren Nutzen für die Menschen an erster Stelle steht? Oder habe ich Erfahrungen gemacht, die mir sagen, dass der Profit sowieso immer vorgeht und dass dafür auch Personenschäden billigend in Kauf genommen werden?
Traue ich einem Regierungsoberhaupt zu, dass es seinen Amtseid gegenüber seinem Volk erfüllt, oder vermute ich eher, dass er/sie nur selbst gut dastehen will und auf den eigenen Machterhalt hinarbeitet?
Noch weiter: ich muss schlechte Erfahrungen noch nicht einmal selbst machen. Es reicht, wenn mir vertrauenswürdig erscheinende Personen hinters Licht geführt wurden, wenn jemand, den ich mag, geschädigt wurde. Und dann kommt oft wieder das Adrenalin ins Spiel: Statt mit kühlem Kopf zu überlegen, reagiere ich mit Angriff oder Flucht. Je nachdem, was angebracht erscheint oder mir in der Persönlichkeit eher verankert ist.
Tief Luft holen, sorgfältig abwägen, Vor- und Nachteile betrachten, verschiedene Blickwinkel einnehmen, den Mut zusammenkratzen und dann entscheiden, ob es sich um einen Scheinriesen handelt oder um eine echte Bedrohung, das ist und bleibt eine riesige Herausforderung. Auch für mich, und zwar lebenslänglich. Manchmal gelingt es besser und dann auch wieder schlechter. Mitunter ist es auch tagesformabhängig. Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung? Vielleicht. Vor allem aber ein gnädiger Umgang mit der Angst, mit mir und mit anderen.
Es ist oft leichter gesagt als getan. Trotzdem möchte ich nicht damit aufhören.
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