Ich sitze am Schreibtisch und räume auf. Und zwar die Favoritenliste meines Browsers, die mal wieder eher einem Zettelkasten mit zu vielen Notizen, Ausschnitten und anderen irgendwann mal gesammelten Schnipseln ähnelt.
Was ich früher (und wenn ich sehr, sehr ehrlich mit mir selbst bin, immer noch) in alten Schuhkartons gesammelt habe, schiebe ich heutzutage in die Favoriten. Für irgendwann mal, wenn ich Zeit und Muße habe, es zu lesen. Und neben all den Kochrezepten, Gartentipps, Strickanleitungen, Stoffhändlern, DIY-Lifehacks, Rechercheseiten, Reiseblogs, Tiervideos und was man sonst noch so unheimlich wichtig findet, gibt es natürlich auch wirklich wichtige Links: Bank, ELSTER, Tageszeitung, die Schule der Tochter, Netgalley, WordPress…
Ab und zu muss auch in diesen digitalen Schuhkartons ausgemistet werden, und weil ich heute den Vormittag sowieso am Schreibtisch verbringen werde, kann ich das tun, solange kein Kunde anruft und mir für mein aktuelles Schreibobjekt die zündende Idee fürs Fortkommen fehlt. Vielleicht stolpere ich ja beim Durchwühlen all der oben genannten Ordner und Homepages über den kreativen Gedanken, der mir gerade fehlt.
Es dauert auch erwartungsgemäß nicht lange, bis ich hängenbleibe. Und zwar auf der Homepage des Zukunftsinstitutes Horx. Ich scrolle durch die vergangenen Ausgaben der Zukunftskolumne und bleibe mit dem Blick kleben an der Überschrift von Kolumne 73: Frieden mit Corona. Ob es daran liegt, dass ich selbst gerade die Erkrankung hinter mir habe, ich weiß es nicht, aber der Titel macht mich neugierig. Ein Absatz hat mich ganz besonders berührt, da denke ich jetzt schon eine ganze Weile dran herum:
Ich nenne die Gefühlslage, in der wir im Modus der anklagenden Beschwerde verharren, den Empörismus. Das ist ein Zustand, in dem unser Hirn – unser »mind« – in eine Art Negativitäts-Trance verfällt. Wir scannen unsere Umwelt dann unentwegt im Raster eines Abwärtsvergleiches. Wenn andere Misserfolge haben, stärkt uns das in unserem Gefühl, überlegen zu sein. Wenn andere einen Vorteil haben, sind wir empört über die Ungerechtigkeit. Wir suchen fanatisch nach dem Negativen, um daraus einen inneren Mehrwert zu generieren.
Empörismus ist eine erprobte Methode, von den eigenen Gefühlen abzulenken. Man hält die eigenen Ängste besser aus, wenn man sie anderen in die Schuhe schiebt. Man transformiert Angst in Wut und Abwertung, und das fühlt sich einfach besser an als die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein.
So entsteht der Corona-Schwurbel – in seinen vielfältigen Varianten.
In den Medien wird dieser Schwurbel bereitwillig aufgenommen und verstärkt. Was wäre besser für Clickraten und Einschaltquoten als permanente wütende Empörung?
Dasselbe gilt auch für den bösartigen Populismus. Der freut sich ganz besonders über jede geistige und emotionale Verwirrung.Im Kern hat der Schwurbel mit unserem Anspruchssystem zu tun. Wir erwarten viel von der Welt. Wir erwarten vom Staat, dass er sich nicht einmischt. Uns nicht behelligt, belästigt, die Freiheit nimmt. Wir verlangen gleichzeitig perfekte Autobahnen. Ohne Geschwindigkeitsbeschränkung.
Im Ernstfall, in der Krise, erwarten wir allerdings Perfektion.Wir erwarten von Technologie, dass sie die schnellen Lösungen bereitstellt. Aber wir blenden die Fehlerhaftigkeit von Technik aus. Und dass das menschliche Verhalten immer die zentrale Rolle spielt.
Dieser Text stammt aus der Zukunfts-Kolumne von Matthias Horx:
www.horx.com/die-zukunfts-kolumne
Siehe auch: www.zukunftsinstitut.de
Etwas weiter unten führt Horx aus:
Wir werden die Krise bewältigt haben, wenn wir uns selbst verzeihen – unsere Dummheiten, Eitelkeiten, Aufregungen, Hysterien. Dann können wir der Krise irgendwann sogar dankbar sein.
Dankbar? Das geht jetzt vielleicht doch ein bisschen zu weit. Wäre das nicht zynisch?Zynisch wäre nur, wenn wir die andere Seite verleugnen: Den Mut und die Größe, die Menschen in Millionen alltäglicher Situationen gezeigt haben. Die Geduld, das Durchhaltevermögen. Das Über-Sich-Hinauswachsen, das in unendlich vielen kleinen Geschichten auftauchte.
Alles, was wir gelernt und verstanden haben. Über uns selbst und die Welt. Über das, was kostbar ist. Und das, auf was wir verzichten können.
Eine Krise ist furchtbar. Aber sie beinhaltet die Möglichkeit, dass wir uns verwandeln. Diese Möglichkeit auszuschließen heißt, die Zukunft zu leugnen.
Es geht hier nicht um toxisches Positiv-Denken. Es geht um Einordnung. Nicht alles ist negativ. Und auch im größten Unglück kann man Augenblicke des Glücks verspüren, das darf und muss man sogar.
Mir fällt dabei eine Episode aus dem ersten Weltkrieg ein: sowohl 1914 als auch 1916 gab es den „Weihnachtsfrieden“, als Soldaten der verfeindeten Nationen gemeinsam Weihnachtslieder sangen, beteten und die Waffen schweigen ließen. Nicht „von oben verordnet“, sondern weil es ihnen ganz persönlich richtig erschien. Das macht den Krieg nicht besser, es leugnet nicht die vielen vollkommen unnötigen Kriegstoten. Aber es zeigt, dass auch in den übelsten Situationen nicht alles falsch läuft zwischen den Menschen, dass sich Solidarität, Empathie und Menschlichkeit immer wieder auch in solchen Situationen finden, in denen man nur das Schlechte sieht.
Ein letztes Zitat aus der Kolumne:
Aber die Wahrheit der Krise zeigt uns: Wandel besteht aus vielen kleinen Erkenntnissen, Einsichten, Wahrnehmungen, die uns befähigen, eine neue Wirklichkeit zu erzeugen. Wandel entsteht, indem wir in ihn hineinwachsen.
Ich schätze mal, das alles, was in der Kolumne 73 geschrieben steht, trifft in mancher Facette nicht nur auf Corona zu. Krisen gibt es rund um uns herum reichlich. Ich kann nur empfehlen, die Kolumne komplett zu lesen. Ganz in Ruhe und vielleicht nicht nur einmal. Und wirken lassen. Mir zumindest hat sie eine Entspannung der Gedanken gebracht, die ich momentan ganz dringend brauche.
PS: Und mein digitaler Zettelkasten ist immer noch so voll wie vorher🙈😂…
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