
Keine klassische Rezension, eher eine Art Gedankenaustausch und Erfahrungsbericht als Mutter und ehrenamtliche Jugendarbeiterin.
Die gute Nachricht vorab: Den EINEN Schuldigen an der Lage gibt es nicht. Weder die Kinder und Jugendlichen selbst, noch die Elternhäuser, Schulen oder die politischen und Verwaltungsinstitutionen.
Die nicht so gute Nachricht: Alle sind beteiligt daran, dass sich zu wenig tut, um Kinder und Jugendliche im Netz, in sozialen Medien und zunehmend im analogen Leben vor Gewalt, Hetze, Pornographie und anderem Mist zu schützen. Und alle sind auch beteiligt daran, dass es überhaupt so weit gekommen ist.
Die deprimierende Nachricht: Zum größten Teil liegt das an der mangelnden Digitalkompetenz – der Erwachsenen! Egal, ob auf Eltern- Lehrer-, Verwaltungs- oder Gesetzgebungsebene: wir, die wir (angeblich) „den Durchblick haben“, sind die größten Versager, denn wir – und möglicherweise auch schon eine halbe Generation vor uns, die Digitalpioniere – haben es versäumt, den Anschluss zu halten, rechtzeitig Regeln aufzustellen, die den Namen auch verdienen sowie angemessen Interesse am digitalen Leben unserer Kinder zu zeigen. Und selbst wenn wir Regeln aufstellen, halten wir uns selbst viel zu häufig nicht daran. (Kleiner Ausblick auf das, was uns mit KI noch bevorsteht, denn dort läuft es gerade in eine ähnliche Richtung…)
Vieles, was ich im Buch gelesen habe, hat mich beschämt. Und hilflos gemacht. Ich habe Fragen gestellt, an meine Töchter und an mich selbst. Ich bin froh, dass die schlimmsten Auswüchse uns als Familie nicht betreffen, aber ich bin mir bewusst, dass wir da viel Glück haben. Durch die ehrenamtliche Jugendarbeit habe ich in den letzten Jahren und Jahrzehnten einige Entwicklungen kennengelernt, selbst mitgemacht und nutze gern soziale Medien. Ich lerne ständig dazu (und trotzdem weiß ich verschwindend wenig), nicht immer nur hilfreiche Dinge. Auf manches könnte ich gut und gern verzichten. Aber ich kenne halt auch viele Eltern, die der Meinung sind: „Ich muss nicht jeden Trend mitmachen“. Das ist sogar sehr verständlich und nachvollziehbar, aber nicht unbedingt hilfreich, wenn man sich dafür interessiert, wie Jugendliche heute aufwachsen und mit welchen Themen sie tagtäglich umgehen (müssen).
Im Buch habe ich mir viele Stellen markiert, die ich hier zitieren könnte, um die Dringlichkeit aufzuzeigen. Aber ich habe mich entschlossen, das nicht zu tun, denn ich möchte, dass ihr, die ihr mit Kindern zu tun habt, es lest.
Nicht weil alles auf jeden zutrifft, aber um zu verstehen, dass die Kinder diejenigen sind, die am wenigsten „schuldig“ sind an den Entwicklungen, allerdings am meisten mit ihnen zu kämpfen haben.
Die schädlichen Inhalte, mit denen sie zu tun haben, stammen meist von Erwachsenen, oder sie sind zumindest davon inspiriert. Und das wirft auf unsere Welt, die oft stolz ist auf (manchmal falsche und manchmal fehlende) Toleranz und Offenheit, nicht immer das beste Licht.
Ich bin zum Beispiel überzeugt: Nicht sexuelle Diversität ist das Hauptproblem, sondern die immer selbstverständlichere Darstellung von Unterwürfigkeit und Gewalt – also S/M-Praktiken – oder einem devoten Frauenbild (die Frau sitzt auf den Knien vor dem sie überragenden Mann oder steht ihm anderweitig willig „zur Verfügung“) nicht nur in Pornos bei sogenannten „ganz normalen“ heterosexuellen Menschen.
Man muss nicht prüde sein, um zu erkennen: In einer Zeit, in der sich die Identitätsbildung vollzieht, wird dadurch ein Gesellschaftsbild erzeugt, das wir eigentlich überwunden glaubten, das aber durch „Influencer“ wie Andrew Tate wieder erschreckend viel Zulauf erhält. Und dass es mehr als verwerflich ist, wenn erwachsene Männer sich als Jugendliche ausgeben, um an Nacktbilder von jungen Mädchen zu kommen, versteht sich von selbst.
Eine andere, eher alltägliche Sache: Wir sitzen mit den Kindern im Restaurant oder im Wartezimmer. Statt Bücher vorzulesen oder mit den Kindern zu malen, stellen wir schon die Allerkleinsten mit blinkendem und piependen Content auf dem Smartphone ruhig. Wenn das die absolute Ausnahme bleibt in Härtefällen, wo gar nichts anderes mehr funktioniert, wenn es ein kurzes Mal in mehreren Monaten vorkommt, wenn wir die Faszination des Kindes für eine seltene Sache nutzen, ist das vermutlich weniger problematisch. Ein großes Problem ist aber: es ist halt so bequem. Man selbst hat den Kopf frei und kann etwas anderes machen. Und da sollte man sich vielleicht doch mal überlegen, ob das nicht auch schon eine Art der Vernachlässigung ist.
Etwas anderes ist es, wenn man gemeinsam etwas Sinnvolles mit dem Smartphone erlebt, zum Beispiel als Familie zum Geocachen geht.
Ganz simples Beispiel: Schnuckelige oder witzige Kinderbilder posten in sozialen Netzwerken. Seit mir meine älteste Tochter vor mehr als 10 Jahren deswegen einen Rüffel erteilte, (sehr zu Recht übrigens, obwohl das Foto wirklich harmlos war) mache ich das nicht mehr.
Wir zeigen Kinder in vermeintlich „putzigen“ Situationen, die ihnen in ein paar Jahren mindestens peinlich sein werden, möglicherweise unangenehm auf die Füße fallen. Ist der Kontext solcher Schnappschüsse dann auch noch: Sommer – leicht bekleidet bis nackig – Schwimmbad oder Planschbecken, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn solche Fotos – sagen wir mal: inspirierend auf manche Menschen mit fragwürdigem Geschmack wirken.
Eigentlich sollten wir alle wissen, dass ein einfaches Löschen des Ursprungsposts keineswegs garantiert, dass die Bilder aus der Welt sind. Und dass Handyverbot, Begrenzung der Bildschirmzeit oder ein „Jugendschutz“-Filter am Router nicht die einfache Lösung eines komplexen Problems sein kann.
Durch die Tätigkeit unserer „Großen“ als Cybercop an der Schule schon vor einigen Jahren weiß ich, dass das Problem nicht neu ist.
Dass es aber mehr als ein Jahrzehnt, nachdem solche und ähnliche Projekte landauf, landab durchgeführt wurden, eher schlimmer als besser wird; dass der Verrohungsgrad absolut nicht blauäugig auf „Brennpunktschulen“ abgewälzt werden kann, sondern für viele Kinder und Jugendliche aller Gesellschaftsschichten Alltag ist, das ist ein Armutszeugnis.
Bei unserer Jüngsten gab es in der 8. Klasse Vorfälle im WhatsApp-Klassenchat. Lehrkräfte wurden beleidigt, antisemitische und verfassungsfeindliche Inhalte gepostet. Ich gehe davon aus, dass die Kids nicht durch und durch verdorben waren (einige hatten bei der Aufarbeitung die Größe, sich persönlich zu entschuldigen), sondern dass da ganz viel Gedankenlosigkeit im Spiel war. Vor allem bei Eltern, die der Meinung waren: „Ist ja nur das Netz, nicht das reale Leben“. Und das ist der Punkt, an dem wir uns nach Aussage Silke Müllers alle an die eigene Nase fassen müssen. Wir (ich auch) erkennen viel zu selten, dass für die Kinder diese beiden Ebenen nicht mehr getrennt sind. Was ja auch teilweise gesellschaftlich verlangt und gefordert wird: Technologieoffenheit ist das Schlagwort, von dem viele Politiker vermutlich überhaupt nicht ahnen, wie tief diese „Fähigkeit“ in unser Leben eindringen wird.
Auch auf die Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern habe ich einen neuen Blickwinkel dazugewonnen. Was diese, ähnlich wie ErzieherInnen, alles immer noch on Top bewältigen sollen, ohne dass veraltete Strukturen dafür wegfallen oder Zeiten und Inhalte anders geplant werden dürfen, das geht gar nicht.
Es ist mit einem „normalen“ beruflichen Engagement nicht zu schaffen, weshalb die Alternativen entweder Resignation oder Selbstausbeutung heißen.
Zuletzt möchte ich noch bemerken: Klar, nicht alle von uns sind digitalaffin. Und auch, wenn es vielleicht wünschenswert wäre, muss das nicht unbedingt sein (es gehen ja auch nicht kollektiv alle Eltern mit ihren Kindern joggen, bevor der Cooper-Test ansteht). Sich in alle Richtungen informieren, Elternnetzwerke in einer Weise sinnvoll nutzen, dass nicht über Lehrer X und Schule Y hergezogen wird, sondern man sich gegenseitig über TikTok-Trends oder zweifelhafte Games informiert, das wäre schon ein guter Schritt.
Miteinander die Schulfamilie leben und gestalten statt in Grüppchen gegeneinander Stimmung zu machen wäre in vielen Fällen vermutlich schon ein großer Fortschritt. Denn über eins sind sich schließlich alle Beteiligten ziemlich einig: Die Kinder verdienen es, anständig, ohne Ängste und möglichst ohne Gewalt- und Hasserfahrung aufzuwachsen.
Mein Fazit:
Ein wichtiges Buch, das mir sehr zu denken gegeben hat. Und mich manches Mal an den Rand meiner Fassung brachte. Die wichtigste Botschaft, die es meiner Meinung nach sendet, ist allerdings eine, die vielen Erwachsenen nicht sonderlich gefallen wird: Wir sind nicht unbedingt Teil der Lösung, sondern eher des Problems.
Wie in eigentlich allen Bereichen des Lebens sind Missstände nicht monokausal, sondern es spielen viele Faktoren eine Rolle.
Glücklicherweise sind nicht alle Kinder und Jugendlichen gleich heftig von den vorgestellten Problemen betroffen.
Aber das kann und darf kein Grund sein, vor den sich verstärkenden Tendenzen den Kopf in den Sand zu stecken. Also kann ich nur allen, die mit dem Aufwachsen von Kindern beruflich oder familiär beschäftigt sind, das Buch ans Herz legen. Selbst dann, wenn man nach der Lektüre aufatmet und sagt: Puh, zum Glück betrifft uns das nicht. Denn die Auswirkungen, wenn nichts geschieht, werden uns alle betreffen. Früher oder später.
Pluspunkte: Silke Müller steht nicht mit erhobenem Zeigefinger da, sondern räumt auch eigene Fehler und Versäumnisse sowie schmerzhafte Lernprozesse ein. Und sie bleibt auch nicht bei der Aufzählung der Missstände, sondern zeigt Lösungsansätze auf, die allerdings gesamtgesellschaftlich angepackt werden müssen. Am wichtigsten aber: Den Hauptbetroffenen (ob nun Opfer oder Täter), den Kindern und Jugendlichen gegenüber, steht sie stets wertschätzend und auch beschützend zur Seite.
Bibliographische Angaben: Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder,
Droemer Knaur, ISBN 978-3-426-27896-3, 20 €
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