
Ich bin weiß, cis-Frau, heterosexuell, nicht mehr jung und noch nicht alt , westdeutsch, Mittelschicht, Provinznudel und Landei; seit drei Jahren Hausfrau und mithelfende Angehörige sowie Minijobberin und als solche von Altersarmut latent bedroht. Obwohl ich eine ordentliche und bürgerliche Ausbildung genossen habe. Gehöre gerade noch so am Rand zur Generation der Baby-Boomer, habe gemäßigt aufbegehrt in meinen Teenie-Jahren, jahrzehntelang als „U-Boot-Christin“ gelebt, aber seit einem guten Jahrzehnt verstärke ich ehrenamtlich die Jugendarbeit in der Gemeinde. Ich bin politisch durchschnittlich gebildet, mittig mit leichtem Schlag nach links (heute also nach Meinung einiger „links-grün-versifft“), aber nicht in einer Partei aktiv, weil ich eigentlich immer der Meinung war, im Endeffekt kann ich mit allen (bisherigen zumindest) Konstellationen einigermaßen unbehelligt mein Leben leben. Egal ob sozialliberal wie in den frühen 70ern, schwarz-gelb wie in Helmut Kohls Zeiten, rot-grün oder Groko. Ich bin weder weit genug „oben“ noch in gefährlich prekärer Lage, ich rutsche halt immer so durch. Und überhaupt hatte ich lange die Überzeugung, dass es immer die gesamte Gesellschaft braucht, um zu funktionieren (die habe ich auch immer noch, ich stelle nur leider fest, dass es gesellschaftliche Gruppen gibt, die kein Interesse mehr haben, dass das Gesamtgebilde funktioniert). Ach ja, und seit einigen Monaten bin ich angeblich auch noch Schlafschaf. Eigentlich also komplett unauffällig und durchschnittlich.
Warum ich das hier so ausbreite? Weil ich immer häufiger staune und schaudere, wie sehr wir Menschen doch einerseits auf unsere individuellen Eigenschaften pochen, so gern etwas besonderes darstellen möchten, etwas ganz einzigartiges, gerade in den „sozialen“ Medien; auf der anderen Seite aber nicht nur von uns selbst, sondern vor allem durch andere Teilnehmer der vielen Netzwerke, in diverse Schubladen sortiert werden. Es verwirrt mich. Welches ist denn meine „Hauptschublade“ und in welchen bin ich nur verschlagwortet? Oder werde ich scheibchenweise aufgeteilt?
Wer kann beurteilen, ob ich irgendwo in meiner Ahnenreihe doch noch ein Quäntchen „Migrationshintergrund“ habe?
Wer darf sich anmaßen, mich als Frau zu bewerten, weil ich als junge Mutter immer gearbeitet habe, meist sogar Vollzeit, und erst im reifen Alter von 50 Jahren festgestellt habe, dass nur Arbeiten auch nicht das ist, was ich vom Leben erwarte?
Wer darf mir den ganz nebenbei leider passierenden Alltagsrassismus vorwerfen, der bei mir ab und zu (zum Glück sehr selten und nicht laut, sodass ich in Ruhe mit mir schimpfen kann) durchscheint, einfach weil im Dorf meiner Kindheit keine sogenannten „Gastarbeiter“ lebten, weil ich in der synchronisierten amerikanischen Ausgabe der Sesamstraße zum ersten Mal ein Kind mit schwarzer Hautfarbe gesehen habe, weil ich meine erste Pizza im Kindesalter einfach nur als scheußlich empfunden habe und all das jahrelang mangels Erfahrung sehr exotisch für mich war?
Wer hat das Recht, meine Überzeugung vom Gelingen des politisch-gesellschaftlichen Lebens in einem gemeinsamen und Menschen verbindenden Projekt als sozialromantische Utopie und als naives Gutmenschentum abzukanzeln?
Und wer zum Henker will mir vorschreiben, dass ich als Buchhändlerin und Literaturvermittlerin nur die Werke von Friedenspreis- und Nobelpreisträgern zelebrieren darf, die deutschen und internationalen Klassiker rauf und runterbeten muss und mich nicht einfach mal mit einer romantischen Schmonzette entspannen kann?
Bei Twitter stünde jetzt noch: „…frage für einen Freund“
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