![](https://annuschkasnorthernstar.blog/wp-content/uploads/2024/06/bus-stop-384617_640.jpg?w=640)
Stell dir vor, du sitzt abends in der Dämmerung an der Bushaltestelle. Auf einmal gesellt sich eine Truppe „Halbstarker“ dazu. Jugendliche in dem toxischen Pubertätsalter, in dem sie machomäßig drauf sind, einen auf dicke Hose machen und sich gegenseitig mit schlüpfrigen Bemerkungen aufziehen.
An diesem Punkt teile ich das Szenario:
In der ersten Variante sind das Jungs, vielleicht sind sogar ein paar Mädchen dabei, die in verschiedenen Dialekten deutsch reden. Manche hochdeutsch, andere „kanaksprak“, wieder andere mit osteuropäischem Akzent. Ihr Gehabe ist dir suspekt, aber wenigstens kannst du verbal folgen und erkennen, dass sie innerhalb ihrer Peergroup die Rangfolge zu klären versuchen: Wer ist der Coolste, wer hat die zweideutigsten Sprüche drauf, wer kommt bei den Mädels gut an.
Vorsichtige Entwarnung, du fühlst dich immer noch unwohl, aber es hält sich in Grenzen.
In der zweiten Variante sind es dunkelhäutige und schwarzhaarige junge Männer, die du mangels Erfahrung mit ihrem fremdländischen Aussehen altersmäßig nicht einordnen kannst. Teilweise wirken sie deutlich älter als sie sind, weil dunkel älter macht. (Das bestätigt dir jede Visagistin.)
Sie reden schnell, laut, in einer gutturalen Sprache, die dir noch fremder erscheint als ihr Aussehen. Sie rempeln sich gegenseitig an, schauen zu dir rüber, nicken sich zu, lachen. Reden sie über deine Fuckability?
Wer weiß, vielleicht haben sie dir auch nur ein Kompliment machen wollen, ungeschickt, wie junge Männer das tun, aber du kannst es nicht verstehen.
Du fragst dich: Was wollen die von mir? Und fühlst dich unsicher wie nie.
In der dritten Variante kommt eine Gruppe Mädchen auf dich zu. Kichernd stupsen sie sich gegenseitig an, zicken ein bisschen herum. Du denkst, ach ja, das waren noch Zeiten, mit 13 Jahren war die Welt noch in Ordnung.
Ehe du es dich versiehst, bist du eingekreist, eines der Mädels reißt dir dein Handy aus der Hand, eine andere entwindet dir die Handtasche. Aus dem Augenwinkel siehst du ein Schmetterlingsmesser aufspringen und dann bekommst du nur noch den Schlag von hinten auf den Kopf mit, ehe es dunkel wird.
Alle drei Szenarien sind so, wie sie hier aufgeschrieben sind, erfunden, aber nicht unrealistisch. Denn von allen Varianten habe ich in den letzten Monaten in der Tageszeitung unserer Region gelesen oder sie ähnlich selbst erlebt (die dritte zum Glück nicht).
Ich schätze mal, es überrascht niemanden wirklich, dass ich lange Zeit das dritte Szenario als das unwahrscheinlichste angesehen habe, aber es ist tatsächlich dasjenige, das zuletzt in unserem Landkreis viele Menschen überrascht, aufgewühlt und ratlos zurückgelassen hat:
Mädchen, noch dazu in einem kindlichen Alter, kurz vor der Strafmündigkeit. Wie passt so etwas zu der diffusen Empfindung, die viele Leute schildern, wenn sie von Angsträumen in der Stadt reden? Denn diese diffuse Empfindung bezieht sich meist auf das zweite Szenario.
Pubertierende Jugendliche, die über die Stränge schlagen, das kennen wir alle. Denn es ist eine Phase, die viele von uns zu ihrem persönlichen Erinnerungsschatz zählen. Alles harmlos, das verwächst sich. Aus uns ist ja schließlich auch etwas Anständiges geworden.
Der Unterschied ist, nicht immer, aber meist: Die Kids, die in irgendeiner Weise in unser bekanntes Schema passen, wirken auf uns nicht so bedrohlich wie diejenigen, die sehr anders aussehen und vor allem, die wir nicht verstehen können.
Übrigens ist das ein undankbares Role Model, das bereits unterschiedliche Peer Groups ausfüllen mussten: Vor den arabischen Zuwanderern waren es lange Zeit die russlanddeutschen Spätaussiedler, deren Jugendliche unter Generalverdacht standen. Davor waren es die Skins, die Punks, die „Gammler“, Hippies, Rockabillys …
Jugendkriminalität ist fraglos deprimierend, sie kennzeichnet ein Versagen der gesamten Gesellschaft, junge Leute vor solchen Entwicklungen zu bewahren. Dabei ist es absolut egal, welche Tätergruppen es sind. Jede einzelne Gruppe, jeder Einzeltäter ist zu viel, ganz klar.
Aber wir können es eben nicht allein einer Gesellschaftsgruppe zuordnen, die sowieso schon eine Minderheit darstellt, die mit Akzeptanz zu kämpfen hat, egal wie staatsbürgerlich sich die meisten Mitglieder dieser Gesellschaftsgruppe verhalten.
Und vor allem: längst nicht jede Gruppe von jungen Leuten, die uns unsicher fühlen lässt (vor allem uns Frauen), hat Übles im Sinn.
Der Mechanismus, der uns dazu veranlasst, uns unwohl zu fühlen, ist nachvollziehbar, wie ich oben beschrieben habe, und deswegen ist Sprache ein absolut wichtiger Faktor der Integration.
Aber mal Hand aufs Herz: Nehmen wir an, du lebst im Ausland, an deinem Wohnort gibt es eine kleine, deutschsprachige Community. Wenn ihr unter euch seid, werdet ihr deutsch reden. Weil ihr euch sicher seid, dass ihr in der gewohnten Sprache eure Gefühle am besten ausdrücken könnt, weil es weniger Missverständnisse gibt, weil es ein Stück Heimat in der Ferne ist.
Gegen tatsächliche Jugendkriminalität, egal welcher Ausprägung, habe ich kein Patentrezept. Aber ich möchte ermutigen, immer mal wieder einen Blick auf die andere Perspektive zu werfen.
Dieser Post ist entstanden aus dem Weiterdenken eines Kommentarwechsels mit Sternenkratzer als Reaktion auf den Beitrag vom Montag
Motzen reicht heute nicht.