Man könnte auch sagen:
Die Chronik einer unterschätzten Region und ihrer Bewohner.
Ich feiere das Buch, fühle ich mich doch ab dem ersten Kapitel wie zu Hause und endlich mal so richtig gewürdigt in meiner Identität als Ostwestfälin😊.
Und ehe hier jemand empört kräht: Die Lipper sind (wie beim generischen Maskulinum) selbstverständlich mit gemeint. Aber es klingt halt so holperig, wenn man die gendert mitspricht…
Schon mit den ersten Sätzen hatte er mich, der Bernd Gieseking. Kleine Kostprobe gefällig? Bitte:
Herzlich willkommen im »kuriosen Ostwestfalen«. Ich bin selber einer: ein waschechter Ostwestfale aus Minden. Aufgewachsen »auf dem Dorf«. So sagt man bei uns. Es gibt hier einige sprachliche Eigenheiten. Dazu gehört, nicht »im« Dorf aufzuwachsen, sondern »auf dem Dorf« zu leben. Beziehungsweise »auf’em Dorf«. Es werden nicht alle Buchstaben gesprochen, die man zur Verfügung hätte.
1. Kapitel: Moin auch!
Typisch ist auch: Hier aus Ostwestfalen kommt man nur »wech« und nicht »her«.
»Wo kommst du her?«, sagt niemand, der dieser Region entstammt. Die korrekte Frage lautet: »Wo bist du denn wech?« An dieser Frage erkennen wir Ostwestfalen uns in der gesamten Welt, in deutschen Metropolen genauso wie an internationalen Reisezielen.
Bei den Mahlzeiten isst man den Teller »auf« und nicht »leer«. »Iss deinen Teller auf!«, das bekamen wir als Kinder immer wieder zu hören. »Du stehst nicht eher auf, als bis du den ganzen Teller ganz aufgegessen hast!« Trotzdem waren alle froh, wenn das Porzellan hinterher noch da war.
Wir in Ostwestfalen fahren »nach Omma«. Nicht »zu« ihr! Und wir sprechen bei »Omma« das »O« eher wie das »o« in »olfaktorisch« als das in »oder«. Und wir sprechen das Kosewort für die Großmutter dazu mit Doppel-»m«. Bei Ausflügen gehen wir »in’n Berch«. Nie »auf den«.
Das sind nur die absoluten Basics, aber in meinem Bauch macht sich sofort beim Lesen ein heimeliges Gefühl breit. Ich könnte euch mit Wonne das halbe Buch hier zitieren, aber ich tu’s nicht. Lest doch selbst, ihr Dölmer (typischer Ausdruck dieser Gegend für …, ach was, findet es einfach raus).
Über das Ankommen in der neuen, alten Heimat (nach Jahrzehnten der Diaspora) über die Feinheiten der dörflichen Namenszuordnung geht es weiter zu Lieblingswörtern (Es plästert heißt zum Beispiel: es regnet ziemlich pladderig, also heftig. Und wenn man etwas Süßes nascht, dann schlickert man.)
Aber dann geht es richtig los: Im Verlauf des Buches stolpere ich zunächst über Orte: Porta Westfalica, Hille, Petershagen und Lübbecke, also unseren wunderbaren Mühlenkreis Minden-Lübbecke. Und Institutionen wie das Windlicht und Zum seriösen Fußgänger in Minden. Über Personen; solche, die ich nicht persönlich, aber in ihrer öffentlich wahrnehmbaren Eigenschaft kenne (unter anderem einen Metzger aus Hille, der die beste Stippgrütze macht, außerdem Dietmar Wischmeyer, Ingolf Lück, Henning Venske, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Britta Haßelmann, Achim Post und Frank-Walter Steinmeier …) , schließlich sogar einen ehemaligen Mitabiturienten von mir (viele Grüße an Martin!), einen Ex-Bundesligaprofi von Schalke, der aus meinem Dorf stammt und einen Kunden der Buchhandlung, in der ich arbeite.
Und natürlich über berühmte Tiere aus Ostwestfalen, wie den westfälischen Totleger, das Bielefelder Kennhuhn, die Lippegans, das Monster von Minden (leider schon sehr lange ausgestorben) und Hennes IX., seines Zeichens Maskottchen des 1. FC Köln, der aus Petershagen stammt.
Was mich fast schon ungläubig schmunzeln ließ, ist die Erkenntnis, dass es anscheinend so häufig Bahnreisende gibt, die unseren Willem für den Hermann halten, dass es diese populäre Verwechslung bis ins Buch geschafft hat! Denn einen solchen unverzeihlichen Fauxpas habe ich auch schon selbst miterlebt.
Was hat Ostwestfalen noch so?
Weltkonzerne wie Miele, Schüco, Claas, Dr. Oetker, Melitta, Wago, Harting, Gauselmann.
Sportmannschaften von Arminia Bielefeld und TBV Lemgo über TUS N(ettelstedt) Lübbecke bis hin zu GWD (Grün weiß Dankersen) Minden, wobei man über letzteres augenblicklich lieber verschämt schweigt. Und die Bessel-Ruderer!
Kabarettisten wie den Autor selbst oder „Ja, hallo erstmal…“ Rüdiger Hoffmann, „Mr. HeuteShow“ Oliver Welke oder Ella Carina Werner.
Musiker wie Alphaville, den Rapper Curse oder die legendäre Band Hammerfest.
Inklusive der Mutter aller Umsonst und Draußen Festivals.
Eine Autorin, die Minden und die Buttjersprache in den letzten zwei Jahren einem großen Publikum bekanntmachte: Carla Berling aka Felicitas Fuchs, aber auch zahlreiche andere bekannte VertreterInnen der schreibenden Zunft.
Dieses und noch viel mehr, was uns hier in OWL so vielseitig und liebenswert😉 macht, trägt Bernd Gieseking liebevoll und heiter-ironisch zusammen. Mit der Quintessenz, die ich bei allem Fernweh doppelt und ganz dick unterstreichen kann:
Ostwestfalen-Lippe – von hier kommt man nicht her, sondern wech. Aber eigentlich möchte man gar nicht wech hier. Und wenn man trotzdem wech ist, kehrt man oft zurück. Manchmal für immer.
Falls mein liebster und einziger Ehemann dieses lesen sollte: Vermutlich ist das mein persönliches „42“, die Erklärung für alles😊.
Und ihr anderen da draußen: Ich lege euch dieses Buch ans Herz, ebenso wie einen Besuch in Ostwestfalen. Oder Lippe. Oder beides.
Bibliographische Angaben: Bernd Gieseking, Das kuriose Ostwestfalen-Buch, Satyr Verlag, gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-910775-06-0, € 24,-
PS: Und ? – Muss!