Freiheit…

In anderen Zeiten hätte ich heute Mittag in Minden auf dem Marktplatz gestanden, mitten unter ca. 2.500 anderen Menschen. Und hätte „Flagge gezeigt“, wäre dafür eingestanden, dass es ein Unding ist, Drohkulissen gegenüber Politkern und anderen Repräsentanten der Gesellschaft aufzubauen, in deren Privatsphäre einzudringen. Und um zu zeigen, dass wir uns keinesfalls in einer „Diktatur“ befinden. Ich habe es dann doch nicht getan, weil dummerweise eine große Menschenmenge nicht das Optimale ist, wenn Inzidenzzahlen ansteigen, aber das eigene Immunsystem gerade wieder durch Medikation runtergefahren wird. Meine Freiheit hätte dann möglicherweise in der Folge die Freiheit meiner Familie massiv eingeschränkt.

In anderen Zeiten, also ohne Pandemie, wäre ein Einstehen für einen respektvollen Umgang miteinander eventuell auch nicht so notwendig. Obwohl, wer weiß, es gibt ja noch reichlich andere Themen, die geeignet sind, Meinungen aufeinander prallen zu lassen.

Statt dessen habe ich mir heute Vormittag mal einige Gedanken gemacht, was Freiheit eigentlich ist. Eine interessante Definition habe ich ausgerechnet im Juraforum gefunden:

„Freiheit im Alltag
Im Alltagsdenken überwiegt die Vorstellung, Freiheit heißt, „dass ich tun und lassen kann, was ich will“. Das ist eine abstrakt individualistische Vorstellung, die zugleich eine negative Auffassung von Freiheit zum Inhalt hat: Das Gebundensein menschlichen Verhaltens und Tuns an natürliche und gesellschaftliche Bedingungen sowie an erworbene Erkenntnisse wird ausgeklammert. Wo sich das Bürgertum seine Macht wirklich erkämpfen musste, wird ausdrücklich die Wahrung der Freiheit anderer Menschen als Schranke individueller Freiheit vermerkt. Dadurch wird Freiheit auf Verantwortung und damit auf Notwendiges im Leben der Menschheit bezogen
.“

Aber für wen habe ich denn Verantwortung, und für wen nicht? Diese Frage ist ähnlich wie im Neuen Testament die Frage des Gesetzeslehrers (Lukas 10, 25-37, Übertragung: Hoffnung für Alle):
„Da stand ein Gesetzeslehrer auf, um Jesus eine Falle zu stellen. »Lehrer«, fragte er, »was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?« Jesus erwiderte: »Was steht denn im Gesetz Gottes? Was liest du dort?« Der Gesetzeslehrer antwortete: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe, mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand. Und auch deinen Mitmenschen sollst du so lieben wie dich selbst.« »Richtig!«, erwiderte Jesus. »Tu das, und du wirst leben.« Aber der Mann wollte sich verteidigen und fragte weiter: »Wer gehört denn eigentlich zu meinen Mitmenschen?« Jesus antwortete ihm mit einer Geschichte: »Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho. Unterwegs wurde er von Räubern überfallen. Sie schlugen ihn zusammen, raubten ihn aus und ließen ihn halb tot liegen. Dann machten sie sich davon. Zufällig kam bald darauf ein Priester vorbei. Er sah den Mann liegen und ging schnell auf der anderen Straßenseite weiter.  Genauso verhielt sich ein Tempeldiener. Er sah zwar den verletzten Mann, aber er blieb nicht stehen, sondern machte einen großen Bogen um ihn.  Dann kam einer der verachteten Samariter vorbei. Als er den Verletzten sah, hatte er Mitleid mit ihm.  Er ging zu ihm hin, behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier und brachte ihn in den nächsten Gasthof, wo er den Kranken besser pflegen und versorgen konnte.  Am folgenden Tag, als er weiterreisen musste, gab er dem Wirt zwei Silberstücke aus seinem Beutel und bat ihn: ›Pflege den Mann gesund! Sollte das Geld nicht reichen, werde ich dir den Rest auf meiner Rückreise bezahlen!‹  Was meinst du?«, fragte Jesus jetzt den Gesetzeslehrer. »Welcher von den dreien hat an dem Überfallenen als Mitmensch gehandelt?«  Der Gesetzeslehrer erwiderte: »Natürlich der Mann, der ihm geholfen hat.« »Dann geh und folge seinem Beispiel!«, forderte Jesus ihn auf.

Wenn ich das übertrage, dann trage ich (aus der Sicht des Gesetzeslehrers) Verantwortung allen gegenüber, die sich mir gegenüber rücksichtsvoll verhalten. Dann bin ich gefordert, mich ebenso rücksichtsvoll zu verhalten. Freiheit ist also nie absolut, sie ist stets ein Geben und Nehmen.

Wenn ich also (obwohl ich der Meinung bin, dass manche Maßnahmen, die in der Pandemie ergriffen wurden oder werden, über das Ziel hinausschießen, andere vielleicht auch nicht weit genug gehen) entscheide, dass ich mich trotzdem an die Regeln halte, dann macht mich das weder zu einem Schlafschaf noch zu einem Besserwisser, sondern ist zunächst einer gehörigen Portion Pragmatismus geschuldet (ich verlasse mich ein Stück weit darauf, dass Leute, die sich in der Materie besser auskennen als ich, so falsch nicht liegen sollten) und zum anderen dem Bewusstsein, dass ich den Menschen, denen ich begegne, immer nur vor den Kopf gucken kann. Ich weiß im Allgemeinen weder, ob sie chronische Krankheiten mit sich herumschleppen, ob sie kürzlich eine Krebstherapie hatten oder ob sie einfach Angst vor der Spritze haben. Deswegen begegne ich ihnen mit Anstand, Abstand und Maske. Dann ist es auch zweitrangig, wie deren Impfstatus ist. Umgekehrt erwarte ich natürlich ein ähnliches Vorgehen: dass niemand mich fahrlässig oder gar vorsätzlich gefährdet.

Ich kann mit Leuten umgehen, die Angst haben, die in der Familie vielleicht schon Erfahrungen mit Impfschäden gemacht haben; auch mit solchen, die eher auf Selbst- und Naturheilung setzen, gibt es Gesprächsfäden (wobei, die Grenzen der persönlichen Freiheit gelten auch hier).

Womit ich ganz große Schwierigkeiten habe, das sind Ignoranten, die dem Virus jede Gefährlichkeit absprechen, Menschen, die bis vor zwei Jahren bestens in diesem Land mit seiner wirtschaftlichen Stärke prosperiert haben und der Repräsentanz ebendieses Landes plötzlich jede Legitimation absprechen sowie Zeitgenossen, die zur Erreichung ihrer Ziele keine Probleme damit haben, mit Extremisten unterwegs zu sein, deren erklärtes Ziel es ist, mit den Methoden der Demokratie genau diese abzuschaffen. Wer laut „Diktatur“ brüllend betrunken von der eigenen gefühlten Wichtigkeit durch die Gegend wanken darf, ohne verhaftet und interniert zu werden, hat den Knall nicht gehört, denn in einer tatsächlichen Diktatur wäre das nicht möglich.

Zwischen gut und böse, schwarz und weiß, oben und unten, recht und unrecht gibt es jede Menge Nuancen. Es ist nicht alles nur toll und es ist nicht alles schlecht, es ist einfach menschlich. Corona wird in absehbarer Zeit endemisch werden, wir werden uns damit arrangieren und Wege finden, da bin ich mir ziemlich sicher. Aber die langfristigen und wirklich großen Probleme stehen noch vor uns, wenn die Auswirkungen der Klimakrise uns so richtig mit Breitseite treffen. Ich mag mir nicht ausdenken, was da noch an gesellschaftlichem Sprengstoff vor uns liegt…


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Autor: Annuschka

Ostwestfälisch beharrlich, meistens gut gelaunt, Buchhändlerin, Ehefrau, Mutter von drei tollen Töchtern, Hundemama, Jugendarbeiterin (in zeitlicher Reihenfolge des Auftretens). Mit vielen Interessen gesegnet oder geschlagen, je nach Sichtweise ;-)

22 Kommentare zu „Freiheit…“

  1. Danke Annuschka. Ja das hat mich auch schon oft beschäftigt. Wie wollen wir die wirklich dicken Bretter bohren, wenn uns ein halbwegs beherrschbarer Virus schon so an die Grenzen bringt

    Gefällt 3 Personen

  2. „Wer laut „Diktatur“ brüllend betrunken von der eigenen gefühlten Wichtigkeit durch die Gegend wanken darf …! Genial, dein Text. Verstehe gut, dass du nicht mit auf dem Platz warst. Es ist schwer, sich Gehör zu verschaffen, in dieser Zeit, wenn man eben nicht wie die, von denen du schreibst, rücksichtslos Menschenansammlungen provozieren will. Hier schreiben ist ein guter Ansatz, um der Vernunft auch Stimme zu verleihen.

    Gefällt 1 Person

  3. Volle Zustimmung, bis auf diesen einen Satz: „Wenn ich das übertrage, dann trage ich Verantwortung allen gegenüber, die sich mir gegenüber rücksichtsvoll verhalten.“ Ich meine eher, ich trage auch Verantwortung denen gegenüber, die sich rücksichtslos (oder dumm oder bösartig) verhalten. Vielleicht habe ich da aber auch etwas missverstanden.

    Gefällt 1 Person

    1. Sehr gut und genau gelesen. Ich musste sogar selbst einen Augenblick überlegen…
      Ich hatte im Nachgang des Gleichnisses einmal auf die Position des Gesetzteslehrers bzw des Maßnahmengegners umgeschwenkt. So ist der Satz verständlicher, aus „unserer# Perspektive hast du natürlich vollkommen Recht. Danke.

      Gefällt 1 Person

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