Der 8. Mai 1986 war ein Donnerstag. Ein Tag, den ich in Wien verbrachte und dort mit meinem Deutsch-Leistungskurs viel Spaß hatte.
Es war der Tag, von dem ich erst am Sonntag darauf erfuhr, dass er für viele Jahre eine Leerstelle in meinem Leben verursachte.
Es war der Tag, an dem mein Vater starb.
Im Jahr 1986 war von Handys, eMail oder sozialen Medien weit und breit keine Spur. Im Nachhinein kann ich eigentlich nur sagen: zum Glück.
Unsere Eltern bekamen zwar vor der Kursfahrt einen Zettel mit den Adressdaten und der Telefonnummer der Jugendherberge, aber erstens hatten meine Mutter und mein Bruder sicher genügend damit zu tun, die ganzen formal zu erledigenden Dinge auf die Reihe zu bekommen, und zweitens wollten sie mir die Kursfahrt nicht verderben, denn: wer weiß, wann ich mal wieder die Gelegenheit hätte, nach Wien zu fahren. (Bis heute war ich nicht wieder dort.)
Mit dem Nachtzug von Samstag auf Sonntag fuhr der Deutsch-Leistungskurs von Herrn Schnickmann wieder nach Hause, müde, aber fröhlich.
Als der Zug in Minden am Bahnhof einfuhr, beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Ich wusste sofort, irgendwas stimmt nicht. Die Eltern meiner Freundinnen am Bahnsteig hatten alle betretene Mienen. Meine Eltern waren weit und breit nicht zu sehen. Dafür standen mein Bruder und meine Schwägerin dort.
Danach weiß ich nur noch, dass ich im Auto heulend zusammengebrochen bin.
Mein damaliger Freund leistete gerade seinen Grundwehrdienst ab und durfte an dem Sonntag nicht die Kaserne verlassen, er hatte mir einen langen und tröstenden Brief geschrieben, der mir gleichermaßen half wie er mich in die Trauer einhüllte.
Papa hatte einen Herzinfarkt, der ihn so schnell getötet hat, dass er sein eigenes Sterben vermutlich nicht mitbekommen hat. Zwei Wochen vor seinem 62. Geburtstag. Ich war 18, vater- und irgendwie auch kurzfristig orientierungslos.
Und dann war da der gutgemeinte Rat meiner Familie, als ich fragte, ob ich Papa noch einmal sehen könne: „Behalte ihn lieber so in Erinnerung, wie du ihn kanntest.“ Ich nehme es ihnen nicht übel, sie gingen davon aus, es sei das Beste für mich.
Ich hätte besser Abschied nehmen können, wenn ich darauf bestanden hätte, das wurde mir aber erst im Lauf der Zeit klar.
Abschied nehmen ist wichtig, wenn man das Bedürfnis hat und sich das zutraut. Als meine Mutter und später meine Schwiegermutter gestorben sind, haben wir unsere Kinder gefragt, wie sie Abschied nehmen möchten. Und es akzeptiert, wie sie entschieden. Ihnen zur Seite gestanden, als die Begegnung mit einem Körper, der nicht mehr wirklich Oma war, ihnen die Vergänglichkeit zeigte. Jedenfalls habe ich es so empfunden, ich hoffe, sie sehen das ähnlich.
In der Nacht, ehe ich nach Wien fuhr, träumte ich, ich käme nach Hause und Papa wäre nicht mehr da. Unvorstellbar?
Nichts im Leben – und auch nicht im Sterben – ist selbstverständlich.
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Ein trauriges Ereignis, aber es ist schön, dass du es mit uns teilst.
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Es geht mir auch nach so langer Zeit nach. Und gehört zum Leben dazu.
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Er war genau in meinem derzeitigen Alter, das macht schon nachdenklich. Ein schneller, gnädiger Tod, leider viel zu früh.
Liebe Grüße, Reiner 👋
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Ja, viel zu früh. Ich hätte gern noch so vieles mit ihm besprochen. Er nahm mich immer ernst.
Lieber Reiner, achte gut auf dich. Wie wir es grundsätzlich alle tun sollten.
Liebe Grüße
Anja
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🫂💙
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Danke fürs teilen Deiner Erfahrung. Das mit dem Abschiednehmen ist so eine Sache. Bei meinen Eltern ging es nicht und bei Schwiegers wollte ich nicht. Dafür fehlt mir bei meinen Eltern heute ein Platz zum trauern. Auch wenn wir die letzten Jahre ihres Lebens keinen Kontakt hatten (ich weiß nicht, warum sie den Kontakt abbrachen), waren sie meine Eltern. Sie haben entschieden, die Asche soll anonym verstreut werden. Oton der Mindener Verwaltung: Die Asche ist irgendwo auf einem Friedhof im Kreis Minden-Lübbecke verstreut. Das schockte uns Kinder und die Enkel.
Fühl Dich gedrückt
Birgit
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Was du schreibst, macht nachdenklich. Wir treffen so oft Entscheidungen, deren Tragweite uns nicht bewusst ist, vor allem, wenn es die Folgegenerationen betrifft. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, mit meinen Töchtern keinen Kontakt mehr haben zu wollen.
Auf jeden Fall danke ich dir für deine Offenheit.
Einen schönen Feiertag und ein ebensolches Wochenende😊
Anja
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