Ratlos stand Hannes vor der niedrigen Tür. Nun war er einmal ganz um das kleine Häuschen herumgewandert und hatte keine Klingel finden können. Da entdeckte er am Balken neben der Tür die altmodische, an einer Art Galgen hängende Glocke.
Beherzt griff er zu und läutete ungeschickt.
Während er noch sinnierend vor der Moorkate stand, etwas unsicher, ob er hier etwas würde ausrichten können, öffnete sich die Tür knarzend.
„Ja, bitte?“ fragte die alte, aber agil wirkende Dame, die ihm jetzt gegenüberstand. Sie trug eine farbenfrohe, offensichtlich selbstgestrickte Jacke über einem alten karierten Männerhemd, dazu eine verschossene Cargohose und derbe Wanderschuhe, die staubgrauen Haare wurden von einem knallroten Bandana zurückgehalten. Im Hausflur stand ein Rucksack, daneben lag ein Stativ.
Hannes stutzte. Die Frau, die man ihm als „schweren Brocken“ beschrieben hatte, sah ganz anders aus als er es sich vorgestellt hatte. Der Pfarrer hatte ihn gebeten, dort einmal vorbeizuschauen, in der windschiefen, vom Zahn der Zeit angenagten Moorkate.
Die Witwe hatte sich zunehmend von der Dorfgemeinschaft zurückgezogen und viele Leute im Dorf munkelten, dass man sie zu den merkwürdigsten Zeiten im Moor tanzen sah, gern im Morgennebel, mit seltsamen Verrenkungen und leise vor sich hinmurmelnd. Außerdem sprach sie häufiger mit ihren Hühnern und den Tieren im Moor als mit den Menschen, die sie bei ihren monatlichen Einkaufsbesuchen traf.
Aufgrund dieser Beschreibungen hatte sich Hannes eine gebückt gehende, verhärmte Greisin vorgestellt, wie die Hexe in den Märchen, die seine Oma ihm früher vorgelesen hatte.
Automatisch antwortete er, während all diese Gedanken wie ein ICE durch sein Hirn rasten.
„Guten Tag. Frau Schäfer? Mein Name ist Hannes Bergmann, ich bin der neue Vikar in der Gemeinde. Ich soll einen schönen Gruß von Pfarrer Stein ausrichten und wollte mich erkundigen, ob Sie etwas benötigen. Ein Gespräch zum Beispiel? Ich beschäftige mich gerade mit Seelsorge in herausfordernden Situationen. Also Einsamkeit und Verlassenheit zum Beispiel…“ Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Oh, Gott, wie sollte denn mit einem solchen Redeschwall jemand mitkommen?
„Hm, äh, das war ein bisschen zu viel auf einmal, oder?“, stammelte er verlegen.
Frau Schäfer schmunzelte. „Nee, passt schon. Ich bin ja nur ein paar Tage älter, aber nicht senil. Ich hab‘ schon alles kapiert, keine Bange“, beruhigte sie ihn. „Mögen Sie mich begleiten? Ich habe ein Date mit den Moorgeistern…“ fügte sie neckend hinzu, schnappte sich den Rucksack und das Stativ, welches sie zwinkernd an Hannes weiterreichte, mit den Worten „Sie dürfen mir beim Tragen helfen.“ Dann griff sie hinter der Tür nach einem Gegenstand, der sich als Spiegelreflexkamera entpuppte und hängte sich diese um den Hals.
Überrumpelt, aber auch fasziniert von der unerwartet rauchigen Stimme und der kraftvollen Aura der Frau, griff Hannes zu und folgte ihr verdattert.
[…]
„Sehen Sie, Herr Bergmann, und das ist der Unterschied. Schauen Sie sich die letzten drei Fotos an. Wenn man immer nur aus der Standperspektive fotografiert, bekommt man so vieles nicht zu sehen. Baumstümpfe, Sumpfgras und Heide von oben, ohne die vielen Kleinigkeiten, die das Leben im Moor den Bewohnern bietet. Da muss man schon mal den Blickwinkel wechseln.“
Noch ganz benommen von den vielen Dingen, die er in der letzten Stunde erfahren hatte, nickte Hannes. Ein bisschen komisch war die Situation schon, wie sie beide bäuchlings auf dem weichen Torfboden lagen. Aber es stimmte. Als er noch auf dem Weg stand, hatte er weder den kleinen Frosch bemerkt – oder war es eine Kröte? – noch auf die vielen Insekten geachtet, die sich emsig zwischen den Pflanzen hin- und herbewegten. Er hätte niemals die verborgene Sonnentaupflanze entdeckt und fasziniert beobachtet, wie diese eine Fliege verdaute.
Sie standen auf und gingen weiter.
„Frau Schäfer, ich danke Ihnen für diese faszinierenden Einblicke, die Sie mir gegeben haben. Ich bin ja in der Stadt aufgewachsen und muss zugeben, dass ich so manchen Zusammenhang über die Vielfalt und die Abhängigkeiten im Moor bisher nicht kannte. Aber jetzt weiß ich immer noch nicht, warum es heißt, Sie würden bei Nebel im Moor tanzen und noch andere merkwürdige Dinge tun. Oder ist Ihnen diese Frage unangenehm?“
Nachdenklich betrachtete Frau Schäfer den jungen Mann. Ja, er war etwas tapsig in seinem Auftreten, aber ernsthaft interessiert an dem, was andere Menschen zu erzählen hatten. Und er konnte gut zuhören. Sie fasste einen Entschluss. Mit einem tiefen Seufzer begann sie:
„Mein Mann war Moorschäfer. Das Leben in und mit der Natur hier am Rand des Moores hat uns beide immer begeistert. Die Schafe sind immens wichtig für das Ökosystem. Sie fressen die jungen Birken, ehe sie zu hoch werden. Aber sie sind leicht genug, den Boden nicht übermäßig zu verdichten. Im Moor hat jedes Lebewesen und jede Pflanze seine Berechtigung. Als mein Mann starb, konnte ich die Schafe nicht behalten, sie erinnerten mich zu sehr an ihn. Aber ich fand eine neue erfüllende Aufgabe, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun: Ich fotografiere die kleinen, unbeachteten Moorwesen und schreibe darüber für eine Umweltpublikation. Und ich weiß, was im Dorf über mich geredet wird. Wenn die Leute sich nur einmal dazu herablassen würden, mich selbst zu fragen. Aber sie echauffieren sich lieber über die komische Alte. Das ist anscheinend ergiebiger und einfacher, als sich mit ihren Vorurteilen auseinanderzusetzen.“
Nach dieser langen Rede brach sie ab und blickte melancholisch in die Ferne. Dann fügte sie leise hinzu: „Die meinen meine Bemühungen, die perfekte Perspektive für manche Fotos zu finden…“
Hannes trat vor sie hin, nahm ihre Hände in seine und räusperte sich. Einmal, zweimal, dann war er sicher, dass seine Stimme trug.
„Frau Schäfer, ich danke Ihnen von Herzen. Ich habe heute so vieles von Ihnen gelernt. Und ich fühle mich beschämt, weil ich mit einer vorgefassten Meinung zu Ihnen kam. Ich bitte inständig um Entschuldigung.“
Dies ist meine zehnte Einsendeaufgabe, für die ich am Wochenende die Korrektur bekam. Eine Korrektur, die mich bestärkt, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Die Anforderung war: Den Anfang und das Ende einer Geschichte schreiben und dabei klar darauf achten, dass beide sich aufeinander beziehen.
Es gab drei Settings zur Auswahl, ich nutzte
Ein Seelsorger besucht eine unheimliche, alte Frau in ihrem abgeschiedenen Haus auf dem Land.
Der Fokus sollte sowohl beim Anfang als auch am Ende auf einem Schwerpunkt liegen: Figur, Thema, Ort oder Stimmung.
Da mich das Moor seit längerem fasziniert, war die abgelegene Gegend schnell gefunden. Und das Thema Vorurteile und Vorverurteilung bot sich auch an. Das brachte mich beides schnell zu dieser alten Frau, die sich als alles andere als wunderlich entpuppt.
[…] ist übrigens der Mittelteil, den ich nur in Gedanken geplottet habe, der aber (noch) nicht verschriftlicht ist. Mal sehen, vielleicht kommt das noch…
Eine Frage noch zum Schluss: Was meint ihr, wer in der Geschichte die Hauptfigur ist? Und warum?
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Die Moorwesen 🙂
Weil sie Lust auf nähere Bekanntschaft machen.
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Oh, das ist mal eine unerwartete Antwort. Aber eine Überlegung wert. (Vielleicht bekommen die noch ihre eigene Geschichte, wer weiß?) Ich warte mal noch ab, später werde ich auflösen😀
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Aufgrund der Aufgabenstellung hätte ich erwartet, dass der junge Mann die Hauptfigur sein soll, aber wenn ich mir anschaue, wie du die Figuren ausgestaltest, ist es die alte Frau. Ich frage mich aber, ob das nicht daran liegt, dass sie mir im Alter so viel näher steht, auch wenn ich den unbeholfenen (fände ich besser als „tapsig“) Vikar sehr sympathisch finde.
Gut erzählt sind die beiden Stücke auf jeden Fall.
Mich würde interessieren, was die Korrektur ergeben hat.
Morgenkaffeegrüße 🌥️🛋️☕🍪
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Guten Morgen Christiane,
du wirst lachen, ich hatte tatsächlich die Frau im Kopf, wie du anhand der Details gut bemerkt hast. Dass der junge Vikar sich so heimlich, still und leise in die Pole Position gemogelt hat, merkte ich auch erst bei Erhalt der Korrektur, da meine Studienleiterin ihn in der Rolle ausgemacht hatte.
Vielleicht bilden die beiden auch eine Art „Doppelspitze“?
Und vielleicht bildet sich da eine Beziehung, zu der ich noch weitere Episoden schreibe, wer weiß.
Die Korrektur ergab folgendes:
„Insgesamt eine sehr gute Arbeit GRKU10. Anfang, Mitte und Ende bauen optimal aufeinander auf und ergeben eine in sich abgeschlossene Handlung.“
Vor allem war sie mit den Übergängen sehr einverstanden: Der Anfang endet mit einem Spannungsmoment, das Ende lässt die Geschehnisse der Mitte erahnen.
Und ich danke vielmals für deine wertschätzende Beurteilung samt Wortaustauschvorschlag; wenn ich bei jemandem sicher bin, dass es ernst gemeint ist, dann bist du das.
Morgenkaffeegrüße zurück
Anja
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Ich danke dir, ich fühle mich geehrt ❤
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Das gefällt mir ausgesprochen gut. Und ich denke, dass es in dieser kurzen Erzählung drei Hauptprotagonist:innen gibt: Die faszinierende alte Frau, den jungen Vikar, und das Moor mit all seinen Zaubern und schönen kleinen Wundern. 😉
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Salomonisches Urteil😉
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