Ihr habt bestimmt auch den Hype um Bücher mit Farbschnitt mitbekommen. Inzwischen geht es anscheinend so weit, dass manche Leserinnen eher auf das komplette Buch als auf den Farbschnitt verzichten.
Was ich ziemlich drüber finde, ehrlich gesagt.
Eine Umfrage von Netgalley hat mir netterweise ein paar Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis gerufen.
Mein Vater war Buchbinder, und zwar Handwerksbuchbinder.
Als Kind liebte ich die Werkstatt. Sie befand sich im ersten Stockwerk der Firma, man kam nur über eine uralte und ausgetretene Außentreppe aus Holzbohlen dorthin.
Im Erdgeschoss gab es ein Papierlager, das Büro und die Kartonagenverarbeitung, sprich: dort wurden Kataloge und Kalender mit Spiralbindung versehen, alles in Handarbeit mit kleinen Maschinen.
Wenn ich mit meinem Vater oder dem angestellten Buchbinder in die Werkstatt gehen durfte (allein durfte ich nicht die Treppe benutzen), freute ich mich jedes Mal. Der vermischte Duft nach Papier, Pappe, Buchbinderleim und altem Gebäude, dazu das Knarzen des Fußbodens aus groben Holzdielen begleitete mich einige Jahre, bis der Häuserblock (für eine Einkaufspassage) abgerissen wurde und die Buchbinderei in ein Industriegebäude umzog. Ich empfand Ehrfurcht vor den großen Schwungrädern der Schneidemaschinen und dem Hebel der Pappschere, die ich allerdings nie anfassen durfte und liebte die vielen kleinen Gerätschaften.
Diese Maschinen sind so einfach und doch so ausgeklügelt. Und sie funktionieren ohne Strom und WLan😄. Bis heute halte ich sie für sehr faszinierend.
Etliche Anwälte der Umgebung ließen ihre NJW (Neue Juristische Wochenzeitung) jedes Jahr einbinden. Die Schornsteinfeger bekamen „Kehrbücher“ und auch Buchhaltungsjournale wurden damals oft noch sehr schön und individuell eingebunden.
Auch damals war Farbschnitt „in“. Je nach Geschmack und manchmal auch nach offizieller Vorgabe wurden meist die oberen Schnitte einfarbig oder auch in einer Marmorierung gebeizt.
Mein Vater setzte dafür Holzbeize in den benötigten Farben an (die kann man bis heute im Baumarkt kaufen). Ehe die Schnitte gebeizt werden konnten, mussten die Buchblocks ganz fest zusammengepresst werden, damit die Farbe nicht die Seiten selbst färbte.
In die Presse kam zunächst ein stabiles Buchenholzbrett, dann der Buchblock und schließlich noch ein Brett. Die Bretter mussten immer größer als die Buchblocks sein und dienten der gleichmäßigen Druckverteilung. Erst wenn die Presse ganz fest zugedreht war, konnte die Farbe je nach Muster mit einem Rundpinsel aufgestupft oder mit einem Schwamm (gröbere oder feinere Poren) gleichmäßig verteilt werden. Dann musste der Buchblock in der Presse trocknen. Erst danach konnten die Buchblocks mit den Einbanddecken verbunden werden, denn die sollten ja keine Farbe abbekommen. Aber darüber erzähle ich ein anderes Mal.
Der Farbschnitt heutzutage wird natürlich maschinell aufgebracht. Aber es ist immer noch eine ordentliche Mehrarbeit, denn es können nicht so viele Buchblocks auf einmal bearbeitet werden wie beim herkömmlichen Schnitt.
Es verbraucht zusätzliche Zeit und natürlich Material, auch wenn es „nur“ Farbe ist. Dafür ist die Erstellung/Programmierung der Druckvorlagen aufwendig.
Und ehrlich gesagt, ich kenne niemanden, der sich die Bücher mit dem Schnitt nach vorn ins Regal stellt. Aber ich erinnere mich, wie wir als Jugendliche unsere Lieblingsbücher mit eigenen „Farbschnitten“ versehen haben, mit Buntstiften oder Stabilos😅🖍📚.
Wie steht ihr zu Büchern mit Farbschnitt? Ja, nein, vielleicht…
Die Fotos für diesen Beitrag habe ich bei diversen Portalen gefunden, die alte Handwerksmaschinen anbieten. Sollte sich ein Anbieter nicht einverstanden erklären, bitte einmal kurz im Kommentar melden, dann entferne ich das Bild sofort. Danke.
Oh, ich kannte den Begriff Farbschnitt bislang gar nicht, aber wir hatten eine 36 bändige Brockhausausgabe zu Hause und die Blattränder waren goldfarben! Ich habe sie als Kind fleißig abgestaubt und dann ehrfürchtig die schweren Wälzer durchgeblättert. Mich entzückt der Anblick bis heute, wenn ich meine Mutter besuche. Was so ein bisschen Farbe ausmacht 😉
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Stimmt, die Enzyklopädien wurden durch den Goldschnitt auch noch optisch aufgewertet, zusätzlich zum Gewicht des Wissens, das dort drin gesammelt war. Das war nochmal eine andere Hausnummer.
Dabei erinnere ich mich, dass zum Prägen der Titel oft Blattgold zum Einsatz kam. Darüber könnte ich auch einen ganzen Beitrag schreiben😄.
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Ich habe den Hype um den Farbschnitt nicht mitbekommen. Ja, das ist schön und bestimmt ein gewisser Mehrwert, aber mir kommt es immer noch vor allem auf den Inhalt an – form follows function, das wird sich wohl auch nicht ändern. Von daher verstehe ich zwar die Sammler von Schmuckausgaben und bestaune gerne alte, prächtige Bücher – aber nee, nicht für Mutters Tochter.
Morgenkaffeegrüße ☀️⛱️🎶☕🍪
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Ähnlich pragmatisch sehe ich das auch. Wo du mich daran erinnerst… mein Kaffee steht in der Küche und wird kalt!
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Gottseidank hast du erklärt, wie das fuktioniert, ich habe noch nie was davon gehört. Meine -Examensarbeti hatte ich damals selbst gebunden, ich war ein wenig eingebildet und wollte allles aus erster Hand, eben selber machen. Ich hatte einen Hiwi-Job an der Uni und da gab es alles, was man brauchte. Jede Autonomie findet eine Grenze am Machbaren, heute verschmähe ich nicht mal einen E-Reader. Nur meine Texte, die mache ich selber!
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