Vom Montagsmotz inspirierter Mittwochstalk.
Wir rennen nicht mehr nur von einer Krise zur anderen, wir leiden auch nicht mehr unter diffusen Multikrisen, nein. Die Krisen haben zum Gegenangriff geblasen und überrennen uns. So fühlt es sich jedenfalls oft an.
„Don’t call us, we call you!“ Danke, auf diesen zweifelhaften Service können wir sehr gut verzichten.
Allerdings habe ich heute (nach zwei Wochen Podcastabstinenz und stattdessen Hörbücher über Jugendliche, die sich in den Träumen anderer herumtreiben) zwei (!) Podcasts gehört, die mich ein wenig zum Nachdenken brachten.
Inzwischen bin ich fast sicher, dass wir mit vielem besser umgehen könnten und es auch würden, wenn wir nicht mit Klischees und Stereotypen überfrachtet würden. Von Social Media Heroes aka Influencern, von Propheten des Untergangs, von Politiktreibenden und auch von seriösen Medien, die ohne schrille Töne leider auch nicht mehr durchdringen.
Ob es ums Gendern oder dessen Verbot geht, ob Stereotype wie rückwärtsgewandte, intolerante arabische Antisemiten genutzt werden, ob Missbrauchsfälle in den Kirchen als der ultimative Grund zum Kirchenaustritt forciert werden, es gibt in der großen Diskussion fast nur Schwarz oder Weiß.
Sogar unser Verkehrsminister, der sich zwei Jahre lang beharrlich weigerte, moderate Anforderungen im Straßenverkehr zum Klimaschutz einzuführen, wollte so gern mit der Keule des Fahrverbots in diese blödsinnige Art der „gesellschaftlichen Debatte“ einstimmen.
Sehr häufig – eigentlich immer – kommen mir diese Diskussionen zu kurz gegriffen vor.
Wer inflationär Apostrophe an alle möglichen Wörter hängt, wem es egal ist, wann „als“ oder „wie“ benutzt wird und andere grammatikalische Gruselkabinettstückchen, dem geht es beim Verteufeln des Sternchens nicht um korrekte, verständliche oder „unverfälschte“ Sprache.
Wer Antisemitismus nur bei Muslimen sucht, der blendet bewusst aus, dass es schon immer und auch aktuell überall, in allen Religionen, sämtlichen Gesellschaften und in jeglicher politischen Richtung auf der Welt Antisemitismus gab und gibt.
Wer die Kirchen auf sexuellen Missbrauch reduziert und sexuellen Missbrauch auf die Kirchen, der will nicht sehen, dass die allermeisten Missbrauchsfälle innerhalb von Familien durch Angehörige stattfinden und dass jede Institution, in der Kinder und Jugendliche betreut werden, eine große Anziehungskraft auf Täter ausübt. Auch Sportvereine, freiwillige Feuerwehren, Pfadfinder, ja sogar Kitas und Schulen.
Und schließlich geht es auch denen, die in allen Maßnahmen zum Schutz unserer Lebensgrundlage nur Gängelei statt Chancen sehen, nicht um sinnvollen Klimaschutz.
Die Liste lässt sich beliebig um Themen erweitern, euch fällt bestimmt etliches ein. Mich macht stutzig, dass alle diese Diskussionen Nebelkerzen oder Ablenkungsmanöver sind. Oder Whataboutismus in Reinkultur: „Schaut erstmal auf die Anderen und überhaupt, haben wir keine anderen Probleme?“ Gar nicht mal immer nur absichtlich und aus bösem Willen, manchmal auch aus Hilflosigkeit oder Überforderung.
Aber wenn man ein gesellschaftliches Problem einer klar definierten Gruppierung zuweisen kann, dann hat der Rest, der nicht zu dieser Gruppe gehört, seine Verantwortung abgewälzt.
Dann muss man sich nicht damit auseinandersetzen, dass es eben nicht so einfach ist, mit den Herausforderungen unserer Zeit klarzukommen.
Oder dass die eigentlichen Probleme genau darin liegen, dass viele Leute einfach nicht mehr bereit sind, sich mit unübersichtlichen Gemengelagen zu beschäftigen.
Dass die Verantwortung für das gelingende gesellschaftliche Miteinander nicht nur bei „denen“ (wahlweise Politiker, Journalisten, Immigranten, Queeren… auf jeden Fall immer bei den anderen), sondern bei jedem einzelnen Menschen liegt.
Ein lesenswerter Beitrag ist hier zu finden. Schon die Analyse, dass der permanente Krisenmodus ebenso wie das klischeehafte Wegschieben nur den falschen Akteuren nutzt, sollte Ansporn genug sein.
Wenn es nicht immer so mühsam wäre. Umso wichtiger, dass sich möglichst viele Menschen aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft dafür einsetzen.
Zum Schluss eine gute und trotzdem ratlos machende Frage unserer jüngsten Tochter:
„Heißt Erwachsenwerden nicht, sich selbst besser zu reflektieren? Welchen Sinn sollte das denn sonst haben?“
Meine Podcast-Tipps der Woche (ja ja, linksgrün versifft, aber trotzdem😉):
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-04/lamya-kaddor-politikpodcast-ehrlich-jetzt
https://www.zeit.de/politik/2024-04/gendern-genderverbot-bayern-was-jetzt-livesendung
https://www.zeit.de/politik/2024-04/kriminalitaet-anstieg-straftaten-was-jetzt-livesendung