„Guten Tag, Erika. Schön, dass du es einrichten konntest, deine Freistunde zu opfern. Lasse von der Schülerzeitung kennst du ja. Bitte, setz dich doch.“
Einladend weist Frau Hartmann auf den Platz am großen Besprechungstisch, auf dem eine kleine Flasche Wasser und ein Glas stehen.
Ein junger Mann, der bereits am Tisch gesessen hatte, steht auf und begrüßt seine Lateinlehrerin respektvoll. Niemandem aus der Schülerschaft käme es in den Sinn, ihr anders zu begegnen, das ist Erika bewusst und sie weiß es zu schätzen. Denn Erika Bolzig ist streng, aber immer gerecht. Damit hat sie sich den Respekt in langen Jahren ehrlich erworben. Selbst das gemunkelte „Frau General“, das ihr manchmal hinterhergeraunt wird, ist davon geprägt.
Nun setzt Frau Bolzig sich, nachdem sie ihre Chefin und Lasse, den Redakteur der Schülerzeitung, begrüßt hat. Unbehaglich rückt sie Glas und Flasche zurecht, ehe sie sich schließlich etwas eingießt. Sie seufzt.
„Gabriele, ich weiß das zu schätzen, aber ernsthaft, so ein Gewese um meine Pensionierung muss doch nicht sein. Viel wichtiger ist doch, habt ihr einen Nachfolger in Aussicht? Es kann doch nicht angehen, dass die Schüler der Oberstufe ihr Latinum nicht machen können.“
Frau Hartmann lacht: „Aber natürlich ist deine Pensionierung ein einschneidender Punkt. Denn wir hätten ohne dich schon viel früher Probleme beim Lateinunterricht gehabt. Wir feiern auch nicht, dass du gehst, sondern dass du immer da warst, und zwar die letzten 35 Jahre. Bitte nimm uns diese Freude nicht. Aber erst gibst du Lasse jetzt noch ein paar Antworten.“
Der Angesprochene räuspert sich umständlich. Er nimmt seinen Block in die Hand, dreht den Bleistift zwischen den Fingern und sucht einen Anfang.
„Frau Bolzig, Sie wissen ebenso gut wie ich, dass Latein niemals Priorität für mich hatte, es muss halt sein, wenn man bestimmte Fächer studieren möchte. Und ich nehme an, Sie wissen auch, dass wir Sie hinter Ihrem Rücken gern Frau General nennen. Weil Sie immer so ein Muster an Disziplin darstellen … “
Er reibt sich nervös mit einer Hand den Nacken und sucht weitere Worte.
Frau Bolzig schmunzelt leicht und ermuntert ihn: „Ja, Lasse, das weiß ich alles. Auch wenn es vielleicht so wirkt, als ob ich nur aus Leistung und Disziplin bestehe, solltet ihr doch in eurem Jahrgang bereits wissen, dass viele Menschen eine Fassade vor sich hertragen, oder?“
Lasse klappt der Unterkiefer herunter. Er legt seine Schreibsachen an die Seite.
Frau Hartmann hat sich leise zurückgezogen. Das verspricht spannend zu werden. Sie beobachtet still, was sich anbahnt: ein ehrliches Gespräch auf Augenhöhe.
Lasse schaut wieder zu Frau Bolzig, es scheint ihr, als ob er sie mit anderen Augen ansieht als zuvor.
„Und Sie, Frau Bolzig, tragen Sie auch eine Fassade? Wenn hier an der Schule jemand auf uns Schüler überzeugt wirkte, dann waren Sie das immer, das weiß ich aus vielen Gesprächen. Sie betreten morgens die Schule im Stechschritt, Ihre Aktentasche tragen Sie wie die Rekruten der Bundeswehr ihr Sturmgewehr, Sie wirken immer unbestechlich und selbstsicher. Nein, das kann doch nicht alles ein Fake sein!“
Frau Bolzig ist es, die nun eine Weile auf die Tischplatte starrt und mit sich zu kämpfen scheint. Schließlich atmet sie tief durch, richtet sich auf und sagt dann leise, wie zu sich selbst: „Ich wollte immer Lehrerin sein. Schon in der Schule war das mein Ziel, weil wir so viele Lehrer hatten, die noch im dritten Reich ihre Laufbahn begonnen hatten. Die hatten nie wirklich mit dieser üblen Zeit abgeschlossen. Ich wollte anders sein, anders unterrichten. Gerecht sollte es zugehen, nicht opportunistisch. Und mein sehnlichster Wunsch war es, Englisch zu unterrichten. Aber in der Zeit, als ich studierte, zeichnete sich ab, dass sehr viele angehende Lehrer Englisch als Hauptfach wählten, während Latein als verstaubt galt und kaum Zuspruch fand.“
Sie blickt Lasse offen an und fährt fort: „Aber ich ließ mich nicht von meinem Berufswunsch abbringen. Also tat ich, was ich dachte tun zu müssen. Ich schwenkte von Englisch auf Latein über. Es fiel mir unendlich schwer, aber ich arrangierte mich schließlich damit. Meine starre Art, den Lateinunterricht in die Schule zu tragen, ist das Ergebnis eines dauernden Kampfes mit mir selbst. Pflichtbewusstsein nennt man das wohl.“
Frau Hartmann und Lasse blicken sich verblüfft an. Sprachlos.
Frau Bolzig erwacht aus ihrer verkrampften Haltung, schüttelt die Erinnerungen ab und klatscht in die Hände, als ob sie lästige Fliegen vertreiben will. Dann lacht sie unvermittelt laut auf und klopft energisch mit dem Finger auf den Tisch: „Lasse, was du über mich schreibst, bleibt dir überlassen. Aber ich bitte dich, schreib eines dazu: Meinen Wunsch, dass ihr immer auf eure Herzen hört. Wenn ihr etwas wirklich wollt, mit ganzem Herzen und allem, was euch ausmacht, dann schafft ihr das auch. Selbst wenn es Umwege braucht oder Zeit. Ihr seid die Zukunft, also liegt es an euch, sie zu gestalten. Und selbst mit Mitte 60 ist es nicht zu spät.
Ich werde nach meiner Verabschiedung für drei Monate durch England reisen und dann an der VHS einen Englischkurs für Senioren übernehmen.“
Eine vollkommen fiktive Geschichte. Oder?
Ist es nicht vielmehr so, dass wir häufiger als es uns bewusst ist, geprägt sind von dem, was aus irgendwelchen Gründen nicht möglich war? Dass diese Einschränkungen, die uns auferlegt wurden, von anderen oder sogar uns selbst, unsere Sicht auf viele Bereiche des Lebens beeinflussen? Und wir das dann auch voller Überzeugung an unsere Kinder weitergeben?
Könnte es zum Beispiel sein, dass viele Menschen sich gegen Veränderungen wehren, weil ihnen nie zugetraut wurde, selbst Teil der Veränderung zu sein?
Daran werde ich noch eine Weile nachzudenken haben.
Besser spät als nie!