Der letzte Tag der dritten Fastenwoche mit dem Motto Mit denen da drüben.
Heute früh schlug ich den Fastenkalender um und blieb gedanklich sofort hängen an dem Spruch, der mir entgegensprang. Ja, er sprang tatsächlich. In meinen Kopf und von da hüpfte er direkt weiter ins Herz.
Du weißt nicht, wie schwer die Last ist, die du nicht trägst.
So ein kurzer, unscheinbarer Satz. Und er trägt so vieles in sich, das uns Tag für Tag passiert. Nicht einmal mit böser Absicht (okay, es gibt öffentlich bekannte Ausnahmen, da hat wohl jeder von uns jemanden im Blick…), sondern weil wir mehr oder weniger unbewusst unsere eigene Lebenserfahrung und Situation auf andere übertragen.
Persönlich fällt mir eine konkrete Situation ein, als ich Anfang letzter Woche beim Radiologen im Wartebereich saß. Ein steinaltes Paar kam herein, kurz nacheinander. Erst die Frau, sie hängte ihre Jacke auf, setzte sich und wartete. Zwei Minuten später kam ihr Mann angeschlurft, setzte seine Schiebermütze ab, zog die Jacke ebenfalls aus und ging zur Garderobe. Seine Frau stand auf, nahm die Jacke und hängte sie ordentlich auf den Bügel, wo er sie schon ziemlich schräg drapiert hatte. Bei der Gelegenheit steckte sie auch gleich die Mütze zusammengerollt in den Jackenärmel.
Zu meiner Beschämung war mein erster Gedanke nicht: „Ach wie schön, die Frau ist so fürsorglich und hilft dem Mann, der hat bestimmt Probleme dabei.“
Schön wär’s. Nein, mir ging der Gedanke durch den Kopf, wie lebenstüchtig dieser Mann denn wohl sein könne, wenn er von seiner Frau selbst beim Jackeaufhängen so gepampert würde (hier fehlt mir ein vor Scham erröteter, im Boden versinkender Smiley).
Was war passiert? Relativ kurze Zeit vorher hatte ich einen Bericht darüber gelesen, dass alte Männer, wenn sie ihre Frauen überleben, meist eine recht kurze Restlebensdauer haben, jedenfalls kürzer als wenn der umgekehrte Fall eintrifft. (Literarisch ist dieses Thema sehr gut in „Barbara stirbt nicht“ von Alina Bronsky verarbeitet).
Obwohl ich auch aus dem eigenen Umfeld weiß, dass man das nicht verallgemeinern kann und es so einfach nicht einteilbar ist, hatte mich die Beschäftigung mit den teilweise fatalen Folgen der früher üblichen Trennung Der Mann schafft das Geld ran und die Frau macht den Haushalt offensichtlich noch im Griff. Und so übertrug ich ohne nachzudenken das Gelesene auf die beiden alten Leute.
Das gedankliche Korrektiv folgte zwar recht schnell und mir fiel siedend heiß ein, dass mein Mann und ich uns nicht viel anders verhalten, wenn es einem von uns beiden gerade nicht gutgeht. Obwohl wir jünger sind. Und dass so eine gegenseitige Rücksichtnahme etwas total Schönes ist, nichts zum darüber lästern.
Wie oft passiert es, dass wir so handeln?
Ein paar Beispiele finden sich auch in der Debatte um Geflüchtete. Wie oft werden da Fragen gestellt:
Warum haben die alle ein Handy? (Gegenfrage: Warum nicht? Weil sie erstens meist nicht aus irgendwelchen total unterentwickelten Gegenden kamen, zweitens nicht mit einem Stapel ADAC-Straßenkarten quer durch Europa gelaufen sind und drittens Kontakt zu ihren Familien halten wollen, genau wie wir. Viertens haben sie in ihrem Smartphone als App einen polyglotten Übersetzer in der Tasche. Und fünftens: Ist euch mal aufgefallen, dass diese Frage bei den Ukrainern nur selten gestellt wird? Offenbar haben wir eine total veraltete, koloniale Sicht auf die Lebenswirklichkeit des nahen und mittleren Ostens …)
Warum kommen da junge Männer? (Weil die oft bessere Chancen haben als junge Frauen mit zwei bis drei kleinen Kindern, weil Familien so lange Geld zusammenlegen, bis es wenigstens eine Person schaffen kann, auch von der körperlichen Konstitution her.)
Warum rotten die sich hier immer so „bedrohlich“ zusammen? (Weil sie hier in der Fremde sind. Da sind ein paar Kontakte mit Leuten, die einen ähnlichen Hintergrund haben, einfach wichtig.)
Das fremdländische Aussehen, dunkle Haare und Haut (was schon bei den alten Volksmärchen immer bedrohlich war), eine Sprache, die für uns rau und hart klingt, eine komplett andere Sozialisation (ja, teilweise leider noch patriarchalischer als hier) und leider auch Personen aus dem Milieu, die sich danebenbenehmen, sorgen für reichlich Vorurteile.
Auch Menschen, die finanziell nicht auf Rosen gebettet sind, die möglicherweise schon in der zweiten oder dritten Generation auf Transferleistungen angewiesen sind, werden so beurteilt. Dabei sind es häufig Krankheitsgeschichten, die im Hintergrund lauern. Körperliche oder mentale Probleme, Suchterfahrungen (auch das sind Krankheiten), die ein geregeltes Erwerbsleben sehr schwierig machen. Auch solche Probleme schlängeln sich von den Eltern auf die Kinder oder sogar die Enkel weiter. Reine Faulheit zu unterstellen, sagt möglicherweise manchmal mehr über denjenigen aus, der solche Stereotype nutzt als über die Betroffenen.
Viele weitere Beispiele könnte ich aufzählen. Wir alle kennen sie auf die eine oder andere Weise. Deswegen schenke ich mir die Energie.
Warum siehst du jeden kleinen Splitter im Auge deines Mitmenschen, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?
(Mt 7,3; Die Bibel, Übersetzung: HfA)
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